Przybyszewski, Stanisław
De profundis
Ritter-Jasińska, Antje
Choromańska, Paulina
Fundacja Nowoczesna Polska
Modernizm
Epika
Opowiadanie
Publikacja zrealizowana w ramach projektu Wolne Lektury (http://wolnelektury.pl). Wydano z finansowym wsparciem Fundacji Współpracy Polsko-Niemieckiej. Eine Publikation im Rahmen des Projektes Wolne Lektury. Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
http://wolnelektury.pl/katalog/lektura/przybyszewski-de-profundis
http://kpbc.umk.pl/dlibra/doccontent?id=11988&from=FBC
Stanisław Przybyszewski, De profundis, wyd. F. Fontane, Berlin 1904.
Domena publiczna - Stanisław Przybyszewski zm. 1927
1998
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2014-02-13
ger
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http://wolnelektury.pl/media/book/pdf/przybyszewski-de-profundis.pdf
ISBN-978-83-288-0764-8
ISBN
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ISBN-978-83-288-1743-2
ISBN
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http://wolnelektury.pl/media/book/txt/przybyszewski-de-profundis.txt
ISBN-978-83-288-2698-4
ISBN
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http://wolnelektury.pl/media/book/epub/przybyszewski-de-profundis.epub
ISBN-978-83-288-3760-7
ISBN
application/epub+zip
http://wolnelektury.pl/media/book/mobi/przybyszewski-de-profundis.mobi
ISBN-978-83-288-4846-7
ISBN
application/x-mobipocket-ebook
ORTHOGRAPHISCHE ÄNDERUNGEN:
th -> t:/
Bürgerthum -> Bürgertum/
Blüthen -> Blüten/
athmete -> atmete/
Thatsache -> Tatsache
ss -> ß:/
Masse -> Maße/
Massstab -> Maßstab/
heissen -> heißen
c geändert:/
Facit -> Fazit/
Curiosums -> Kuriosums/
Psychiaternomenclatur -> Psychiaternomenklatur
i -> ie:/
düpirt -> düpiert/
interessirt -> interessiertINTERPUNKTION:
u.s.w. -> usw./
um’s -> ums/
in’s -> ins
Dass er den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte, nachzusehen, ob ein Brief da wäre. -> Dass er den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte nachzusehen, ob ein Brief da wäre.
Er fing an den Brief wieder von vorn zu lesen. -> Er fing an, den Brief wieder von vorn zu lesen.
GROSS- UND KLEINSCHREIBUNG:
Beide -> beide/
Alles -> alles
Stanisław Przybyszewski
De profundis
Pro domo mea
In ein paar Wochen gedenk' ich ein Buch herauszugeben: »De profundis«, dem ich jetzt schon einige Begleitworte an Stelle der Vorrede vorausschicke.
Ich möchte das Buch nur in wenigen Händen wissen
--- es ist kein Buch für das Volk --- und diesen Zweck
glaub' ich dadurch zu erreichen, dass ich es nur in einer
sehr beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lasse.
Ich habe in diesem Buche das Gebiet des sogenannten
,,normalen Denkens“, also das Gebiet des ,,logischen Gehirnlebens", des Lebens in der ,,Realität" (!) gänzlich verlassen. Alle, die sich auch nur ein wenig mit dem Seelenleben beschäftigt haben, wissen, was das ,,freisinnige Bürgertum" unter dem normalen Denken versteht: Alles, was
über die Begriffssphäre des ehrbaren Müller und Schulze
hinausgeht, ist natürlich verrückt. Selbstverständlich ist für
diese Menschen Goethe der Maßstab des ,,normalen" Empfindens, wobei natürlich übersehen wird, dass er in seinen
Epigrammen Proben von einer schon ganz schon vorgerückten sexuellen Perversität abgegeben hat.
Nun ja: dies ehrbare Gehirnleben, dies uniforme Gehirnleben, dessen Denkgesetze sowohl für den niedrigsten
Bildungsplebejer von der Sorte Max Nordau wie für den
entwickeltsten und scharfsinnigsten Gehirnaristokraten von
der Art Nietzsche im gleichen Maße gelten, fängt an,
furchtbar langweilig zu werden. Das hat auch Nietzsche
eingesehen, und so schrieb er sein ,,verrücktes" Buch, d. h.
sein seelischestes Buch: »Also sprach Zarathustra«...
In »De profundis« handelt es sich um die Manifestation des reinen Seelenlebens, der nackten Individualität,
des Zustandes der somnambulen Ekstase, oder wie die zahllosen Worte auch heißen mögen, die eine und dieselbe
Tatsache ausdrücken, die Tatsache nämlich, dass es noch
etwas Anderes gebe außer dem dummen Gehirn, ein
au delà vom Gehirn, eine unbekannte Macht mit seltsamen
Fähigkeiten begabt, nämlich: die Seele --- die Seele,
die Ekel empfand, in der fortwährenden Berührung mit
der lächerlichen Banalität des Lebens zu stehen und sich
das Gehirn geschaffen hatte, um sich nicht jeden Tag
prostituieren zu müssen...
Das Surrogat dieses unsichtbaren Seelenlebens: das
logische Gehirnleben, kennen wir nun zur Genüge. Das
ganze Fazit aller seiner wissenschaftlichen und philosophischen Spekulationen ist ein Ignoramus und Ignorabimus, also eine gänzliche Bankerotterklärung all’ seiner
verzweifelten Bestrebungen. Das künstlerische Fazit ---
risum teneatis amici --- ist der Naturalismus, die seelenlose, brutale Kunst für das Volk, die Bürgerkunst par excellence, die biblia pauperum für das schwache ,,normale"
Gehirn, das denkfaule, feige, plebejische Gehirn, das alles
erklärt, alles zurechtgelegt haben will, das jede Tiefe,
jedes Geheimnis verhöhnt und verspottet und für Verrücktheit erklärt, weil es die Seele hasst, nur weil es sie
nicht begreifen kann. Ja! das rohe, stupide Bürgergehirn
--- die famose vox populi --- hasst alles, was es nicht verstehen kann, vielleicht auch, weil es die bekannte Plebejerangst hat, düpiert zu werden.
Nun ja: man überlasse dem Plebejer, was des Plebejers ist, mit Vergnügen sogar einige Herren, die durchaus
,,Großgehirnaristokraten" genannt werden wollen.
Ich meine hier also eine andere Kunst. Die Kunst,
die sich in der Malerei nicht mit der banalen Außenwelt,
ein paar alten, stupiden Invaliden in Amsterdam zum Beispiel, beschäftigt, sondern der Welt, wie sie sich in der
Seele in seltenen Stunden, den Stunden der Halluzination
und der Ekstase widerspiegelt. Ich denke auch nicht an
die famosen Leoncavallos und die zahllosen Mascagnis,
sondern etwa an die Fis-moll-Polonaise von Chopin, diesen
grässlichen, nackten Seelenschrei. Ich meine hier auch
nicht den feudalen Reinhold Begas, sondern Vigeland. Ja,
ich denke jetzt an eine andere Kunst, die Kunst, die das
Tageblatt-Bürgertum für verrückt, blödsinnig, impotent
usw., usw. erklärt hatte.
In der Literatur hat diese Kunstgattung im orientalischen Altertum und namentlich im Mittelalter ungemein
reiche Blüten getrieben. Ja, namentlich im germanischen
Mittelalter. Keine Rasse hat so viele Mystiker, also Menschen, die des reinen visionären Seelenlebens teilhaftig
wurden, hervorgebracht, wie gerade die germanische.
Für die moderne deutsche Künstlergeneration dieser
Art, also Künstler, die sich mit den Phänomenen des
Seelenlebens beschäftigen, scheint mir Amadeus Hoffmann der Urahn zu sein. Freilich hat Hoffmann an die
seelischen Phänomene als solche kaum geglaubt. Er suchte
sie rationalistisch zu analysieren, etwa wie ein anderer Herr
den Übergang der Juden über das rote Meer durch eine
kolossale Ebbe erklären wollte; vielleicht suchte Hoffmann
das Rätselhafte der Seele dem fetten Bürgergehirn, auf
das er nun einmal aus buchhändlerischen Rücksichten angewiesen war, gegen bessere Überzeugung verständlich
zu machen.
Der nun so gefeierte Edgar Poe hat sich des seelischen Problems als eines wissenschaftlichen Kuriosums bemächtigt, allerdings mit einer künstlerischen Macht, die
mit kalten Schauern den Rücken überläuft.
Es folgen die Revolutionen von 48, die Revolutionen
der Bildungssüchtigen und der Aufklärungsbedürftigen, die
Revolutionen mit ihren prachtvollen Errungenschaften: dem
überflüssigen Parlamentwesen und dem wohlfeilen Presspiratentum. Pressfreiheit! Wundervoll! Das liberale Bürgertum fing an vermöge der Pressfreiheit den Gott abzuschaffen --- nein! das wagte es nicht von wegen der Monarchie, die von Gottes Gnaden bestand, aber es hat sein
Dasein --- auf ,,wissenschaftliche Gründe" gestützt --- angezweifelt. Das liberale Bürgertum durfte aber wenigstens
die Seele abschaffen und ihre unleugbaren Offenbarungen
als Blödsinn und Humbug erklären. Gott, wie es sich
gefreut haben mag, als der Spuk von Resau endlich entdeckt und gerichtlich abgeurteilt wurde!
Mittelmäßige, beschränkte Geister kommen zur Herrschaft: die Büchners, die Vogts, die Strauß, die Spencers
und die Psychophysiologen und wie sie alle heißen mögen,
die Braven.
Das goldne Zeitalter des Materialismus und des Berliner Tageblattes, des naturalistischen Dramas und der freisinnigen Politik!
Erst in der jüngsten Zeit hier und da Einer, der verwundert vor irgend einer seelischen Offenbarung stehen
bleibt, vor einem langen Blick, der in später StundeWie ich dem wohlfeilen Gehirn der Witzbolde das Witzmachen erleicht're! gewechselt wird und den ganzen Menschen aufwühlt. Hier
und da Einer, der Angst bekommt vor einem momentanen
Blitz der Seele, der durch das Gehirn fährt und das Unterste zu oberst kehrt. Hier und da Einer, dem etwas
zu Bewusstsein kommt, etwas Fremdes, Furchtbares, etwas,
wovon er sich keine Rechenschaft geben kann: eine Idee,
die --- mag sie noch so schön physiologisch erklärt werden --- nicht in den Ideengehalt seines Gehirnes hineinpasst, eine Tat, die unabhängig von dem Gehirnwillen, ja
trotz des Gehirnwillens geschah. Das liberale Bürgertum
hat dies alles für Verrücktheit erklärt, die famosen bürgerlichen Psychiater haben dafür den schönen Ausdruck
,,Psychopathie" gefunden, und der senile Schwachkopf Max
Nordau hat sogar darüber zwei Bände geschrieben, lehrreich für eine Alterserkrankung dieses Herrn, an der bekanntlich schon Cicero litt.
Eine neue, unbekannte Künstlergeneration tritt also
auf. In Belgien --- (Ich sehe hier von den sonderbarerweise anerkannten und Gottseidank nicht verstandenen
Künstlern wie Huysmans und Maeterlinck ab) Verhaeren,
Krains, Eckhoud, --- in Skandinavien Ola Hansson --- in
Polen Przesmycki, --- in Deutschland Dehmel und Schlaf.
Freilich scheint Dehmel den Weg, den er mit solcher
Macht und solcher Sprachgewalt in ,,Aber die Liebe"
betreten hat, jetzt in seinen ,,Lebensblättern" verlassen zu
wollen. Unter den Ländern aber, in denen diese literarische
Revolution mit besonderer Kraft und Begeisterung geführt
wird, scheint mir Böhmen obenan zu stehen. In der
Reihe äußerst begabter und intelligenter Künstler nenne
ich hier nur Machar und Jirí Karásek.
So weit musste ich ausholen, um den Zweck meiner
jüngsten Publikation zu rechtfertigen.
Was ich also mit meinem »De profundis« bezwecke,
ist einzig und allein, ein seelisches Phänomen darzustellen
--- ich denke die Seele immer im schroffsten Gegensatz
zum Gehirne. Das ist alles. Aber ja: die Handlung!
Hm, die Handlung, vielleicht auch Situation, Verwicklung,
Intrige usw. Ich pflege keine Handlung zu haben, weil
ich das Leben der Seele schild're und die Handlung ist
nur eine Kulisse der Seele, eine schlecht bemalte Kulisse,
wie sie auf einer Liebhaberbühne einer Kleinstadt zu sehen
ist. Das Leben bedarf keiner Handlung, um Konflikte zu
erzeugen. Dazu genügt ein harmloser Gedanke, der nach
und nach vom ganzen Menschen Besitz nimmt und ihn zu
Grunde richtet.
Man sollte mir ja nur nicht wieder mit dem dummen
Vorwurf kommen, ich sähe die Menschen nur auf das Geschlecht hin. Nun: ich sehe die Menschen weder ,,darauf
hin", ob sie geniale Geschäftsleute sind oder nicht, noch
,,darauf hin", ob sie in einer scheußlichen finanziellen
Misere leben oder sich Pferde und Maitressen halten
können, noch ,,darauf hin", ob Hans die Grethe kriegt
oder nicht, ich sehe sie ebensowenig ,,darauf hin", was
sie sonst als ,,logische Gehirnmenschen" sind, oder was
sie als solche leisten können, eventuell leisten könnten,
ebensowenig, wie ich jemals ein Möbelstück oder ein
Zimmerarrangement beschrieben habe: ich sehe die Menschen lediglich ,,darauf hin", ob es in ihnen jemals zur
Offenbarung der Seele kommt oder nicht. Und weil es
seltene Fälle sind, in denen sich die Seele offenbart, einmal vielleicht, wie nur einmal der heilige Geist über die
Apostel kam, so sind die Fälle, die ich analysiere, eben
sehr seltene Fälle.
Das Einzige, was mich interessiert, ist also nur die
rätselhafte, geheimnisvolle Manifestation der Seele mit
all’ ihren Begleiterscheinungen, dem Fieber, der Vision,
den sogenannten psychotischen Zuständen --- doch ich
will meine literarischen Freunde mit der bürgerlichen
Psychiaternomenklatur nicht erheitern.
Ich schreibe: man sollte mich mit dem Vorwurf verschonen, ich wage es allerdings nicht zu hoffen. Aber
ebensowenig wie ich etwas dagegen vermag, dass im
ganzen Mittelalter die seelischen Offenbarungen durchweg
nur auf dem Gebiete des religiösen Lebens zu finden sind,
ebensowenig kann ich etwas an der Tatsache ändern,
dass in unserer Zeit die Seele sich nur in dem Verhältnis
der Geschlechter zu einander offenbart. Mag man dafür
der Seele die Vorwürfe machen, nicht mir. Denn alle
sonstigen seelischen Phänomene der sogenannten ,,weißen
Magie" entfallen ebenso wie früher auf das Gebiet des
religiösen Lebens.
Wenn ich von der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben spreche, so meine ich natürlich nicht die
fade, brave, komisch-pikante Erotik eines Guy de Maupassant, noch die süßlich-widerliche Unterrockspoesie für
Konfektionösen eines Peter Nansen, noch die gesättigte
Gleichgültigkeit des Ehebettes. Was ich meine, das ist das
schmerzhafte, angsterfüllte Bewusstsein einer unnennbaren,
grausamen Macht, die zwei Seelen aufeinander wirft und
sie in Schmerz und Qual zusammenzukoppeln sucht, ich
meine die intensive Liebesqual, in der die Seele bricht, weil
sie sich mit der anderen nicht zu verschmelzen vermag,
ich meine das enorme Vertiefungsgefühl in der Liebe, wo
man in der Seele tausend Generationen tätig fühlt, tausend
Jahrhunderte von Qual und abermals Qual dieser Generationen, die an Zeugungswut und Zukunftsbrunst zu Grunde
gingen, ich denke nur an die seelische Seite in dem
Liebesleben: das Unbekannte, Rätselhafte, das große
Problem, das Schopenhauer zuerst ernsthaft in seiner
,,Metaphysik der Liebe" aufgeworfen hatte, freilich mit
wenig Erfolg, weil die logischen Mittel für das Unlogische
der Seele nicht ausreichen. Unsere Zeit, die überhaupt
keine Probleme hat, die nicht schon durch die ,,tiefsten
Geister" gelöst waren, kennt die Liebe nur als eine
Ökonomische und sanitäre Frage, und es ist ganz natürlich,
dass für die bürgerliche Kunst die Liebe nur als der
mehr oder weniger selige Weg in das finanziell und gesundheitlich geregelte Ehebett besteht. So kam es, dass
dies tiefste Seelen-- und Lebensproblem nur äußerst wenige
Denker gefunden hat. Und sonderbar genug, dass gerade
in einer solchen Zeit ein Künstler --- allerdings auf dem
Gebiet der ,,bildenden" Kunst --- erstehen sollte, der in
die schauerlichen Geheimnisse und Abgründe des Geschlechtslebens weit tiefer eingedrungen ist, als irgend ein
Philosoph vor ihm: Félicien Rops.
Man sehe sich seine Werke an, und man wird verstehen, was ich unter der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben meine. Hier nur ein paar Worte, wie
Félicien Rops den ewigen Erreger der Liebesgärung, das
Weib, auffasst, um gleichzeitig auf die enorme Distanz
zwischen dieser und der bürgerlichen Kunst hinzuweisen.
Für die bürgerlichen Künstler ist das Weib ein Spielzeug oder ein unglaublich edles Wesen, eine Kokotte, oder
eine steif verschnürte, unnahbare Größe, sie ist ein Miezchen oder eine präraffaelitische Kunigunde... he, he,
wie singen doch unsere braven Lyriker von den verschiedenen Fräuleins?
Für Rops ist das Weib eine furchtbare, kosmische
Macht. Sein Weib ist das Weib, das in dem Manne das
Geschlecht wachgerufen hat, ihn an sich mit tausend
wohlfeilen Listen kettete, ihn zur Monogamie erzog, die
Männerinstinkte durcheinanderwarf, sie schwächte, verschob
und verfeinerte, die Elemente seiner Begierden in neue
Formen ordnete und ihm das Gift seiner teuflischen Lüste
in das Blut impfte.
Und in der schmerzhaften Ekstase des Schaffens hat
er die längst verlorenen Verbindungen wiedergewonnen, die
uns an unsere mittelalterlichen Vorfahren knüpfen. Er ist
nicht mehr der Mann, der sein Leben einsetzt für den
lächerlichen Preis des Fünfsekundengenusses, er leidet
nicht mehr unter dem Weibe, er bäumt sich auf in dem
wilden Hass gegen die furchtbare, zerstörende Kraft und
wird zu einem fanatischen Ankläger, der in der Raserei
gegen seine eigene Natur das Weib unter Umständen
dem Feuertode preisgeben würde, um die Welt von dem
,,größten aller Übel", dem Weibe, zu befreien.
Und hier steht er vollkommen im Einklänge mit den
mittelalterlichen Diabologen. Man lese nur die Doktoren:
Bodinus, Sinistrari, Del Rio, Sprenger... Zwei Welten
schmelzen ineinander und begegnen sich in einer und derselben visionären Erkenntnis der Wurzel alles Daseins,
der Wurzel jeglichen Schmerzes und aller Qual.
Soll ich nun jetzt vielleicht motivieren, warum ich in »De profundis« ein ,,succubat" --- der Deutsche scheint
keinen passenden Ausdruck dafür zu haben --- geschildert
habe, dies grässliche succubat» das der ganzen großen
Kultur des Mittelalters in der grandiosen Schöpfung des
Teufels und der Hexe den Stempel aufgedrückt hatte?
Ich hoffe: nein!
Ja, noch etwas: Die bürgerliche Kritik schreit so
entsetzlich nach Kraft und Gesundheit. Sonderbar? Es
gab wohl keine Zeit, die mehr stupid, mehr protestantisch
und mehr borniert wäre, als die unsrige. Ist das nicht
Gesundheit genug? Ist das nicht Gesundheit genug, dass
unsere Zeit so krankhaft seelenlos ist? Und würden die
Kraftmeier, die famosen Abse der Literatur nicht einmal
zur Abwechselung ein solches Werk mit Interesse lesen
können, ohne es gleich in den Schmutz zu ziehen und
den Verfasser einen dekadenten Wüstling zu nennen?
Stanisław Przybyszewski
De profundis
Meinem Freunde/
Meiner Schwester/
Meinem Weibe/
Dagny
Er ging müde und wie zerschlagen nach Hanse. Es
fröstelte ihn trotz der tropischen Hitze. Im Halse fühlte
er feine, scharfe Stiche wie von glühenden Nadeln.
Jetzt würde er wohl ernstlich krank werden. Er
fühlte es kommen. Und gerade hier: in einer fremden
Stadt ...
Er ging schnell die Straße entlang. Nach Hause.
Bald trat ihm kalter Schweiß auf die Stirne, eine unangenehme feuchte Hitze kroch schwül über seinen Körper,
und die Stiche im Halse wurden noch häufiger und
schmerzhafter.
Die Angst wühlte sich tiefer und banger in sein Blut:
er begann zu laufen.
Oben auf seinem Zimmer warf er sich aufs Bett.
Sein Herz schlug gewaltsam. Er fühlte, er hörte die
feinsten Adern klopfen und zittern und sich in wachsender
Macht mit Blut füllen, als ob sie platzen wollten.
Er setzte sich behutsam im Bett zurecht, nun reckte
er sich langsam hoch: es wurde noch schlimmer. Er schob
die Kissen gegen die Wand, legte sich halb hin, presste
die Stirn gegen die kalte Wand und horchte auf das
Fieber.
Allmählich glättete es sich in ihm. Das Blut floss
langsam zum Herzen zurück. Er hustete frei auf, ohne
Schmerzen.
Er wartete. Ob es nicht wiederkäme?
Nein: Das Herz schlug fast ruhig, nur seine Hände
fieberten und er war wie gebadet in Schweiß.
Er knöpfte langsam die Kleider auf und trocknete
sich die Stirn. Nur seine Hände: sie glühten so heiß
und so feucht.
Nun ja: es war nicht das erste Mal. Es wird sicher
vorübergehen.
Seltsam, dass er jedes Mal, wenn er von seiner Frau
wegfuhr, von diesem Fieber befallen wurde. Jetzt sollte
er sie hier haben: nur ihre Hände festhalten, und alles
würde gut werden. Er wurde sicher gleich einschlafen...
Wieder begann es in ihm zu schwellen. Sein Körper
fing von Neuem an zu zittern, es würgte ihn im Schlund
und seine Fäuste ballten sich krampfhaft.
Eine kranke Sehnsucht nach ihren Händen, eine quälende
Gier, ihren Leib an sich zu pressen, sein Gesicht auf ihre
Brust zu legen: deutlich fühlte er ihre Hand mit leisen
Schauern über seinen Körper gleiten und rinnen. Das
Gefühl wurde so visionär deutlich, als wäre sein Tastsinn
ein Organ für sich geworden mit einem selbstständigen Gedächtnis: Er unterschied die feinste Gefühlsnuance, die er
doch sonst nur bei der wirklichen Berührung ihres Körpers
empfand.
Und die Sehnsucht fing an zu sprießen und schwoll
und schoss wild hinauf. Die Qual krümmte seine Finger
und zerrte an seinen Nerven, er kauerte zusammengekrampft,
als wollt' er sich in seinen eignen Leib einwickeln.
Er fuhr auf und kam zur Besinnung. Sein Herz lief,
eine rasende Angst bäumte sich steil in ihm hoch. Mit
wachsendem Entsetzen hörte er auf das Klopfen und
Brausen in seinem Körper. Er fühlte das Blut mit wütendem Drang die Gewebe anfüllen und auseinanderreißen.
Er sprang auf, blieb stehen, dumpf, starr. Seine Glieder
flogen und seine Zähne klapperten in Fieberfrost.
Was sollte er nur anfangen?
Er durfte sich um Gotteswillen nicht eine Sekunde
dieser Qual hingeben, sonst wurde er sicher die Nacht
nicht überleben.
Mit zitternder Ungeduld suchte er nach den Streichhölzern. Die Vorstellung, dass er sie vielleicht nicht finden
würde, brachte ihn der Ohnmacht nahe, er tappte umher
und atmete tief auf: sie waren da.
Er zündete das Licht an und blieb lange reglos stehen.
Nun musste er an etwas denken, an irgend etwas
Gutes und Ruhiges, etwas, das sich wie ein Ruhekissen
unter seinen Kopf schöbe.
Plötzlich entdeckte er einen Brief --- auf dem Tisch
mitten unter seiner Wäsche.
Dass er den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte,
nachzusehen, ob ein Brief da wäre.
Es ging etwas Besonderes in ihm vor. Er ging ganz
wie im Traum. Und jetzt hatte er keinen Mut, den Brief
zu öffnen. Wenn irgend etwas Unangenehmes drin stand!
Das wurde sicher sein Gehirn zerstören.
Da wurde er wütend. Lächerlich, dass ihn das bisschen Fieber so herunterbringen konnte. He, he: ein bisschen Fieber nicht überwinden zu können! He, he: das
bisschen Fieber wurde er schon überwinden. Er hatte ja
doch schon viel Schlimmeres durchgemacht...
Über seinem Gehirn lag etwas wie eine feine Eisplatte.
Das kühlte förmlich. Er wurde plötzlich so ungewöhnlich
klar. Aber es war, als würde die Gehirnmasse verdrängt,
tiefer gepresst, die kühle Eisplatte wuchs zu einem Eisklumpen an, die Kälte begann weh zu tun: jetzt fuhr es
ihm in langen, glühenden Striemen über den Rücken: er
lachte heiser auf.
Na natürlich! Ein ganz gewöhnliches Fieber...
Er zerknitterte krampfhaft den Brief.
Ein ganz gewöhnlicher Fieberanfall... Er begann
zu pfeifen.
Nun fühlte er lange Nadelstiche in der Brust.
Aha: alte, gute Bekannte... Wieder lachte er laut:
das würde ihn sicher nicht aus dem Konzept bringen, dazu
müsste die Tortur viel, viel schmerzhafter sein.
Er ging langsam herum, lachte und pfiff.
Ja, richtig: eine Zigarette!
Aber der Rauch machte ihn schwindlig.
Nicht einmal rauchen durfte er: das war doch wirklich schändlich. Das hatte aber doch nichts zu bedeuten,
er war nur sehr schwach. Natürlich: wenn man nicht
isst, wird man schwach.
Ja, der Brief, der Brief...
Er zerriss resolut das Kuvert, aber die Buchstaben
tanzten vor seinen Augen, er sah lange hin, sammelte seine
ganze Willenskraft und zwang sich schließlich, den Brief
zu lesen und zu verstehen.
Er las langsam. Die Buchstaben waren so sonderbar
lebendig. Als hörte er ihre Stimme, nur in einer neuen
Form gegliedert:
Mein teuerster, mein einziger Mann, Du --- Du...
mein!
Schon eine Woche, seit Du weg bist. Willst Du
noch länger bleiben?
Ich bin neugierig, was Du den ganzen Tag über in
der Stadt machst. Hast Du Deine Mutter besucht? Natürlich nicht. Aber mit Agaj bist Du oft zusammen, nicht
wahr? Es muss ihr doch sehr schwer sein, fortwährend
zwischen Dir und Deiner Mutter zu vermitteln. Sie ist
ein so prachtvolles Mädchen. Ich liebe sie fast eben so
sehr wie Dich und ich habe so oft über ihre Liebe zu
Dir nachgedacht. Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie
eine Schwester. Ich habe nie etwas Ähnliches unter Geschwistern gesehen? Bist Du sehr oft mit ihr zusammen?
Und morgen werden es zwei Jahre, seit wir verheiratet
sind. Denk nur: zwei Jahre! Hast Du den Tag vergessen? Ich bekomme doch sicher morgen einen langen,
schönen Brief von Dir? Oder --- oder? Ich wage es
nicht zu hoffen, aber vielleicht kommst Du selbst?
Nein, nein, komm lieber nicht. Ich habe das Gefühl,
dass es Dir in der Stadt gefällt, und das macht mich glücklich. Du hast so entsetzlich gearbeitet und jetzt musst Du
ein bisschen Abwechslung haben, ein wenig Luftveränderung,
nicht wahr?
Aber wenn Du kämest, das wäre wunderbar. Ich liebe
Dich --- Du!
Du fühlst Dich doch sehr wohl --- wie? Dann bleib'
nur lieber, bleib', mein Teuerster Du!... Und weißt Du,
ich bin manchmal eifersüchtig auf Agaj, ich habe Angst,
dass Du sie mehr liebst wie mich. Aber das ist doch
Unsinn, nicht wahr? Du musst sie tausendmal von mir
grüßen und ihr sagen, dass ich sie liebe, dass sie meine
einzige Freundin ist.
Nun leb' wohl. Du, mein Liebling. Tausend Küsse
von Deinem Weib.
Er fing an, den Brief wieder von vorn zu lesen.
,,Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester..."
Ein heftiges Licht durchfurchte seine Seele.
Er sah deutlich Agaj vor sich sitzen. Das schwarze
seidne Kleid schmiegte sich mit warmer Wollust um die
schlanke, magere Gestalt. Er fühlte durch das Kleid die
feinen, zarten Glieder.
Er ließ sich in den Fauteuil sinken.
Sie wich nicht von ihm. Immer sah er sie dicht,
dicht neben sich. Er entkleidete sie mit den Augen, er
wühlte in ihrer Nacktheit, er begehrte sie: sein Gehirn
begann in einem gierigen Taumel zu wirbeln.
Aber Agaj ist ja meine Schwester! schrie er entsetzt
in sich hinein.
Da hörte er sie plötzlich sprechen. Er verstand nun
alles, was er noch vor drei Stunden nicht verstehen konnte.
,,Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine
Schwester..."
Die paar Worte schlugen sich tief in seine Seele. Es
war, als wäre dort ein Pünktchen Licht hineingefallen,
das nun plötzlich zu einer Feuersbrunst ausgewachsen war.
,,Als Du das letzte Mal ins Ausland fuhrst, glaubt
ich, dass ich verrückt würde."
Er hörte es damals fast gleichgültig an, und jetzt, jetzt
endlich verstand er es.
Er riss die Augen auf. Er riss sie noch weiter auf:
das furchtbare Licht blendete ihn.
Er kroch ganz in sich zusammen. Ein schmerzhafter
Wollustkrampf fraß saugend an seinem Hirn, er wehrte
sich nicht: die Schauer einer gierigen Lust krochen wie
Gift in jeden Nerv seines Körpers.
Er schrak hoch.
Das war das grässliche Fieber! Gott, Gott, was sollte
er nur anfangen? Er musste wachen, er musste lauern
und wachen, dass es nur nicht wiederkäme. Seine eigne
Schwester!... Aber das ist ja Wahnsinn...
Er lachte irrsinnig. Er lachte lange, bis er Angst
vor seinem Lachen bekam.
Natürlich war es das Fieber. Dass er dagegen so
machtlos war!... Er musste ins Bett zurück. Ja, sich
ganz lang hinlegen, dass das Herz sich wieder beruhige.
Er entkleidete sich und legte die Streichhölzer dicht
neben sein Bett.
Ich werde sie wohl bald wieder brauchen, lächelte er
seltsam.
Nun löschte er die Lampe aus. Eine unerträgliche
Hitze. Die Decke lastete auf ihm wie ein Alp: er warf sie ab.
Plötzlich mit einem Ruck spannte sich sein Gehirn
ab, eise glückliche Ruhe kam über ihn.
Ein paar Gedankenbrocken gingen langsam durch
seine Seele, zögernd, zerrissen, wie Wolkenlappen nach
einem Gewitter. In seinen Augen flackerte ein winziges
Lichtchen, wie ein Irrlicht über einem grünen Sumpf. Er
verfolgte es, wie es sich in zackigen, steilen Linien emporwarf und wieder herunterfiel, schwer und jäh wie ein gefallener Stern. Er sah es über dem Sumpf blitzschnell
dahinschießen und dann wieder in irren Kreisen tanzen,
schneller und schneller, bis es schließlich wie eine glühende
Lichtmasse fahl den Sumpf umlohte. Und die grüne, fahle
Sonne wuchs, schwoll, goss sich kochend über, leckte an
dem Dunkel mit gierigen Zungen und zerfraß es zu blutigen
Fetzen. Und da schossen die Zungen in schmetternden
Sturmfanfaren jäh hinauf --- höher noch: mit wüster Macht
warfen sich die Sonnenbrände steil empor, bis sie am
Himmel zerschellten. Noch sah er sie drängend emporzüngeln, dann brachen sie langsam an der Spitze, krochen
zögernd ineinander und verschlangen sich in einem brünstigen
Geflecht.
Und aus dem kochenden Orkan des Lichtes wuchs
ihm ein entsetzlicher Gesang hervor.
Eine Verzweiflung wie vor tausend offenen Gräbern.
Als hatte sie der Himmel geöffnet und der Menschensohn
stiege hernieder, um das Gericht über die Guten und die Bösen zu halten. Millionen Hände fühlte er sich in verblutendem Todeserethismus emporrecken mit Fingern, die
um Mitleid und Gnade schrien. Er hörte ein tierisches
Gebrüll, das wie ein Meer von dampfendem Blut in kochendem Gischt zum Himmel spritzte, und immer fühlte er die
knochigen Finger sich krallen und spreizen und im brechenden Schmerzenskrampfe schreien:
,,Ad te clamamus exules filii Hevae, ad te supiramus
gementes et flentes in hac lacrymarum valle"...
Und er sah einen Zug von Tausenden von Menschen
vorbeirasen, gepeitscht von einer brutalen Ekstase des
Unterganges, unter einem Himmel, der das Feuer und die
Pest auf sie herabspie. Er sah die Seele dieser Kreaturen
in dem ekelhaften Veitstanz des Daseins sich wälzen und
zucken, er sah den zerfleischten Rücken einer ganzen
Menschheit und die Verzückung des Wahnsinns in dem vertierten Auge.
Und langsam hörte er den Zug sich entfernen, die
dumpfen, qualtrunkenen Töne klangen wie das Röcheln der
letzten Agonie und die kupferrote Flammensonne warf
grüne, schillernde Lichtstreifen über die Sümpfe von Blut.
Ad te clamamus exules filii Hevae! hörte er plötzlich
in sein Ohr kichern: ein Weib glitt in sein Bett. Ihre
Glieder wanden sich langsam um seinen Körper, zwei
schmale Arme umklammerten ihn fest, schmerzhaft fest,
und er fühlte die Spitzen zweier Mädchenbrüste sich in
seinen Körper hineinglühen.
Er erstickte. Sein Herz schlug nicht mehr, nur ein
geller Sturm der Wollust zerwühlte sein Hirn. Ihr heißer
Atem versengte sein Gesicht, und ihre Lippen saugten
sich ächzend an seinem Munde fest. Wie weißes Eisen
glühte ihr Leib.
Da fühlte er wieder den Zug herannahen, sich wie
einen Knäuel von verstrickten Leibern dumpf und schwer
heranwälzen: ein Knäuel von Leibern, die sich bissen, mit
rasenden Fäusten auf einander losschlugen, sich zerstampften
und in Höllenqualen auseinanderrissen, aber sich nicht zu
trennen vermochten. Der Gesang wurde zu einem Geheul
von wilden Bestien, die Verzweiflung kreischte grell in
dem verblutenden Hallelujah des Vergehens.
Er lachte, er schrie mit, aber er ließ das Weib nicht
los. Er fraß sich mit den Fingern in ihren Leib. Ihr
Herz fühlte er in seinem Körper klopfen, schwer, dumpf
wie einen Klöppel gegen die geborstene Metallwand der
Glocke, zwei Herzen fühlte er plötzlich Blut in sein Gehirn
emporschießen, sich an einander reiben, und einander wund
zerschürfen.
,,Ad te supiramus gementes et flentes in hac lacrymarum valle"...
Die Verzweiflung kippte um in einen Abgrund von
Tollwut und die Finger brachen in
Hass, in eine zuckende, geifernde Blasphemie, er fühlte den
Menschenknäuel den Himmel anspeien, er hörte ihre
Lungen in einem grässlichen Schrei auseinanderreißen:
Mörder! Mörder!
Jetzt erlahmten seine Hände, er ließ sie los. Und
da wälzte sie sich über ihn, er hörte sie schreien, er fühlte,
wie sie mit den Zähnen ihm die Halsadern zerschnitt, wie
sie ihre Hände wühlend in seinen Körper vergrub.
Und von Neuem steifte sich sein Körper. Er warf
sich über sie her, er legte sich über sie mit verzweifelter
Kraft: Ihr Leib wand und bäumte sich. Aber er war
stärker. Er fesselte den widerspenstigen, zuckenden Körper
mit Händen und Beinen, sein Leib warf sich ein paar Mal
auf und ab im schmerzhaften brutalen Krampf: der wilde
Sturm barst in einem langen, verröchelnden Laut.
Noch hielt er fest ihren Leib umschlungen. Ihre
Glieder lösten sich. In ihren Händen zuckte sein Herz
wie eine verlöschende Flamme. Die letzte Schauerwoge
verebbte: ein unsagbar ruhiges Glück tauchte in sein Blut.
Da: plötzlich fühlt' er sie entweichen, ihre Glieder
glitten langsam an seinem Körper entlang; er griff nach
ihr, verzweifelt sprang er ihr nach...
Agaj! schrie er, Agaj!
Im selben Nu stolperte er, stürzte lang hin und kam
zu Bewusstsein.
Er lag auf dem Boden.
Da warf er sich auf das Bett, die Angst nestelte auflösend an seinem Hirn.
Das war nicht Traum, das war mehr wie es jemals in
der Wirklichkeit sein konnte, tausendmal mehr, schrie er
in sich hinein... Sollte er wirklich wahnsinnig werden?
Mit letzter Kraft warf er alle Gedanken aus dem Kopf,
mit Verzweiflung klammerte er sich an eine dumme Erinnerung, aber das Hirngespinst seines Fiebers goss sich
schäumend über seine Seele: er fühlte so lebendig die
Wollustraserei ihres Körpers, seine Lippen waren wund,
sein Körper wie gebrochen von der Brunst ihrer Umarmung.
Das war Agaj --- der Alp Agaj --- der Vampir Agaj!
Er fuhr entsetzt auf:
Sie war es wirklich, sie konnte zugleich an zwei
Stellen sein. Sie konnte sich teilen, und jetzt war sie
bei ihm.
Er fühlte, dass die Angst ihn jetzt töten würde. Er
wollte Licht anzünden. Seine Hände zuckten und flackerten.
Endlich gelang es ihm.
Das beruhigte ihn einen Augenblick.
Und plötzlich, wieder von Neuem kam über ihn ein
wilder Paroxysmus von Gier und Sehnsucht nach Agaj.
Und schon wollte er sich von Neuem in die Fieberorgie
dieser blutschänderischen Wollust werfen. Er brauchte nur
das Licht auszulöschen, und er wurde es von Neuem erleben.
Aber die Angst schoss in ihm empor. Ein Strom von
Angst staute sich in seinem Hirn: das würde sein Leben
kosten.
Er faltete krampfhaft die Hände und suchte stöhnend
nach Erlösung.
Endlich packte er gierig ein Buch, das auf dem Nachttisch lag: Auf der ersten Seite sein eignes Portrait.
Er sah flüchtig hin: sein Blut gerann vor Schreck.
Er sah wieder hin: die Linien schienen lebendig zu werden,
das Gesicht wuchs, bekam Leben, schien sprechen zu
wollen...
Er blätterte ein paar Seiten um und fing an laut zu
lesen. Aber seine Stimme klang ihm dröhnend im Gehirne wieder, und er hatte das Gefühl, dass der Andre im
nächsten Moment hervorkriechen werde, bald, bald werde
er aus dem Buche herauswachsen und ihn anstarren...
Das ganze Buch bekam etwas Lebendiges, es schien
sich in seinen Händen zu bewegen, er warf es entsetzt
weg, aber es bewegte sich, es kroch auf dem Boden umher, der Andre arbeitete sich mühsam hervor, jetzt, jetzt
würde er ihn sehen...
Er sprang rasend aus dem Bett, warf sich mit seinem
ganzen Körper über das Buch, packte es dann mit den
Händen, würgte es, riss es auseinander, aber er fühlte, dass
er hochgehoben wurde, gewaltsam, wie von einer Winde
hochgeschraubt...
Das ist Wahnsinn, das ist Wahnsinn! schrie es in ihm.
Er sprang auf, stierte wie abwesend auf das Buch: die
Vision war vorüber, aber er hatte Angst es aufzuheben.
Endlich kam er zu sich.
Er setzte sich hin: Ohnmacht umfing lähmend sein
Herz. Er sank auf das Bett und stierte in stumpfer Verzweiflung auf die Decke.
Da stellte sich plötzlich die Erinnerung an die Orgie,
die er soeben durchlebt hatte, wieder ein.
Ein krankes Verlangen begann ihn zu peitschen, seine
Kräfte gaben nach, schon fing er an zurückzusinken, da
stand er mit einem Mal ganz mechanisch auf, ohne im Geringsten daran zu denken oder es zu wollen, kleidete sich
wie in einem somnambulen Traum an und ging auf die
Straße.
Er sah sich um: er war wirklich auf der Straße. Es
wurde ihm nicht ganz klar, wie er heruntergekommen war.
Aber er war glücklich, dass er nun weg, weg war von dem
entsetzlichen Zimmer, wo Satan seine Messe feierte.
Jetzt musste er an Satan glauben, murmelte er tiefsinnig, ja an Satan und an seine raffinierte, grausame Geschlechtsmesse...
Er setzte sich hin auf die Stufen eines Denkmals, vergrub den Kopf in beide Hände und verfiel in einen fiebrigen Halbschlaf.
Da schrak er zusammen: Jemand war dicht vor ihm
stehen geblieben.
Er sah auf. In dem Zwielicht des ersten Morgengrauens sah er ein Mädchen, sah nur, dass sie sehr blass
war und große weite Augen hatte.
Sie sahen sich lange an.
--- Ich will mit Dir gehen, sagte er und stand auf.
--- Komm! Sie ging schnell voraus.
--- Geh' nicht so schnell, geh' langsam. Ich habe eine
entsetzliche Angst... Aber Du wirst meine Hände halten,
dann werd’ ich gleich schlafen... Ich bin gar nicht wie
andere Männer, gar nicht, fügte er nach einer Pause hinzu.
Sie sah ihn verwundert an.
Er merkte plötzlich, dass er sprach, ohne es zu wissen.
Sie blieben wieder stehen.
--- Du bist ja noch ein Kind, sagte er erstaunt, ich
könnte Dich ja auf meine Hände nehmen und tragen. Und
Du gehst so leicht, dass ich kaum Deine Schritte höre...
--- Komm, komm: es ist noch weit.
--- Weit? Aber ich kann ja kaum gehen.
--- Gib die Hand. So...
Er fühlte plötzlich eine neue Kraft.
--- Und Du wirst meine Hände halten, fest, sehr fest,
selbst im Schlaf, willst Du?
--- Ja, ja...
--- Ist es noch weit?
--- Bald, bald...
Sie gingen stillschweigend.
--- Hier! sagte sie leise.
--- Hier?
Sie gingen eine Treppe hinauf.
--- Nun komm, komm, sie küsste ihn flüchtig, wir
sind beide so entsetzlich müde, so entsetzlich müde, wiederholte sie nachdenklich. Ich werde bei Dir schlafen und
immer Deine Hände halten.
Er legte sich hin und nahm sie in seine Arme wie
ein Kind.
Sie schlang die Arme um seinen Hals.
--- So fühlst Du mich stärker, sagte sie ernst.
--- Wer bist Du? fragte er leise.
Sie antwortete nicht.
Er schlief sofort ein.
Sie saßen auf der Veranda eines Restaurants.
Es war später Nachmittag. Die Häuser warfen schwere,
satte Schatten über die breite Straße. Das dichte Laub
der Bäume war gesprenkelt mit purpurnen Flecken. Weiter
ab ein Baum, dessen Blätter schon ganz gelb waren und
abwärts die Straße entlang flirrte unruhig eine ganze Farbenskala von fiebrigem Purpur bis zum welken Weißgelb hinab:
er bekam ein plötzliches Interesse für die Tausende von
Farbennuancen...
--- Nun, warum sprichst Du denn kein Wort? Sollen
wir den ganzen Nachmittag so stumm dasitzen?
Agaj war sehr erregt.
Er sah sie an und lächelte seltsam.
Sie fuhr auf.
--- Warum siehst Du mich so an?
Sie starrten sich lange an. Sie wurde rot und senkte
die Augen.
--- Noch nie hast Du mich so angesehen, murmelte
sie leise.
Er rückte ihr näher.
--- Ja, Agaj, ich habe Dich noch nie so angesehen.
Du hast Recht. Aber Du bist mir nicht mehr das, was
Du mir gestern warst. Ich bin neugierig auf Dich. Ich
kannte Dich bis jetzt nicht.
Sie sah ihn gespannt an.
--- Ich sehe Dich anders an, als ich Dich gestern angesehen habe... Er schwieg eine Weile. --- Warum ich
nicht spreche? Ich will Dir nichts Furchtbares sagen.
Sie warf den Kopf hoch und starrte ihn herausfordernd an.
--- Aber darauf wart' ich ja die ganze Zeit --- auf
dies Furchtbare. Mein ganzes Leben, vierundzwanzig Jahre
wart' ich auf dies Furchtbare! Sag' es doch endlich.
Er wühlte in ihr mit seinem Blick. Sie sah zur Seite.
--- Es ist mein Ernst, Agaj! Ich bin heute ganz
sonderbar ernst. Ich war in meinem Leben nicht so ernst.
--- So? So? Aber warum solltest Du nicht ernst
sein?
Er lachte boshaft.
--- He, he, Du bist neugierig, Du willst mich herausfordern... Aber weißt Du denn nicht, was ich Dir zu sagen habe? Fühlst Du es nicht?
Sie schwieg.
--- Fühlst Du es nicht? Er erbebte.
Schweigen.
Sie stieß das Glas an und trank es aus.
--- Trink doch, lachte sie. Du willst wohl Abstinenzler
werden? He? Hast wohl wieder Fieber? Armer Du!
Er trank hastig; seine Hand zitterte.
--- So sag' doch endlich das Furchtbare! Siehst Du
nicht, wie ich neugierig bin?
--- Soll ich es wirklich sagen?
--- Warum solltest Du es verschweigen? Sie lachte
höhnisch. Aber trink doch, trink! Deine Adern klopfen,
als wollten sie Dir die Haut zerreißen.
Er trank wieder.
--- Agaj, erinnerst Du Dich an die furchtbare Nacht
--- damals...
Sie zuckte merkbar.
--- Erinnerst Du Dich?
--- Nein!
--- Oh, oh --- Du erinnerst Dich sehr gut. Seit zwölf
Jahren denkst Du immer daran. Warum lügst Du? He,
he... Du warst wohl zwölf Jahre damals, dreizehn ---
wie? Du hattest Angst vor dem Gewitter und kamst zu
mir ins Bett, ich sollte Dir Märchen erzählen...
Sie lachte gezwungen auf.
--- Und ich erzählte Dir die ganze Nacht hindurch.
Ich habe mich gequält, etwas Neues zu erfinden. He,
he... Du warst so verwöhnt, Du schliefst ja immer bei
mir...
Er sah sie fast gehässig an.
Ihre Finger liefen unstet und in nervöser Aufregung
auf dem Tisch herum.
--- Es regnete Blitze and Feuer vom Himmel. Und
jedesmal, wenn der Himmel barst und unser Schlafzimmer
in grünem Lichte stand, bekreuzigten wir uns und beteten:
Und das Wort ist Fleisch geworden... He, he, erinnerst
Du Dich nicht? Und der Ritter ritt auf einem schwarzen
Pferd, und das Pferd hatte gold'ne Hufe. Sie glänzten
in der Sonne, dass die Menschen blind wurden...
Wieder krachte der Himmel: Und das Wort ist Fleisch
geworden... Und da kam der Ritter an einen Berg, der
von einem Riesen bewacht war... Und das Wort...
Nicht wahr? So ging es die ganze Nacht über. Und da
plötzlich: dies furchtbare, minutenlange Krachen und Bersten,
als der Blitz dicht neben unserem Hause in die Pappel
einschlug! Da warfst Du Dich zitternd auf meine Brust
und presstest Dich so fest an mich... noch fühl ich
Deine mageren Händchen um meinen Körper geschlungen
und Deine zarten Beine sich mit kranker Hitze in mich
hineinglühen. Damals hattest Du auch Fieber. Du hattest
immer Fieber. Weißt Du es jetzt?
Sie ließ den Kopf tief herabsinken. Er konnte ihr
Gesicht nicht sehen. Es war verdeckt von der breiten
Krampe ihres schwarzen Sommerhutes.
--- Nun trink doch! sagte er mit geheimnisvollem
Lächeln. Dein Wohl!
Sie stieß schweigend mit ihrem Glase an.
--- He, he, Du trinkst ganz ausgezeichnet. Das hab’
ich Dir beigebracht. Du fürchtetest, ich würde Dich verachten, wenn Du nicht tränkest. Gott, wie Du mich geliebt haben musst! Alles tatst Du nur um meinetwillen.
Und jetzt, jetzt?... Agaj! jetzt?
Er wartete gespannt auf die Antwort.
Sie schwieg.
--- Jetzt? fragte er heiß.
--- Bist Du schon mit dem Furchtbaren zu Ende?
Ihre Stimme klang höhnisch und wegwerfend.
Er lachte laut auf.
--- Du scheinst Dich schnell gefasst zu haben. He, he:
es kam so unerwartet Du warst ja Anfangs ganz krank vor
Aufregung. Noch seh ich Deine Hände zittern und auf
Deinem Gesicht glühen rote Flecken.
Sie sah ihn wütend an. Er erwiderte ihren Blick
mit zynischem Lächeln.
--- Nein Du! Ich bin gar nicht zu Ende... Ja,
damals... He, he: Du hörst es so gern... Ich wachte
früh auf. Ich konnte nicht schlafen. Ich löste vorsichtig
Deine Arme von meinem Körper. Du warst auf meiner
Brust eingeschlafen. Ich stand auf und fing an mich anzukleiden. Und da sah ich Dich plötzlich. Ja, plötzlich:
ich habe Dich nie vorher gesehen... gesehen! verstehst
Du? Es war wohl heiß, denn Du hattest die Decke mit
den Füßen abgeworfen und lagst nun nackt.
Er lachte heiser.
Dein Hemd war bis zum Halse aufgerollt, schliefst Du
da eigentlich? Er flüsterte ihr die Frage leise ins Ohr.
Sie sah ihn an. Ihr Gesicht zuckte. Ihre Augen
waren übergossen von einem heißen, fiebrigen Glanz.
Sie tauchte langsam, gierig tastend ihren Blick in seine
Seele.
Er zuckte zusammen.
--- Hörst Du nicht, was ich sage? Dein Hemd war
bis zum Halse aufgerollt, und Du lagst ganz nackt. Und
ich bin sicher, dass Du nicht schliefst, ich bin sicher, dass
unter den langen Wimpern Dein Blick in mein Blut
kroch... Sei doch ein wenig empört! Bist Du es
nicht?
Sie ließ wieder den Kopf sinken.
Er beruhigte sich plötzlich.
--- Ich starrte Dich an. Ich konnte mich von Deinem
Körper nicht losreißen. Mein Herz klopfte, dass ich nicht
stehen konnte.
Sie sah ihn flüchtig an mit einem verzerrten fiebrigen
Lachen.
--- Und dann? fragte sie heiser.
--- Dann --- dann... seine Stimme zitterte --- dann
sank ich an Dich und küsste Dich...
--- Auf den Mund? Sie konnte kaum die Worte ausstoßen.
--- Nein... Er fing wieder an zu flüstern. Du weißt
es ja, Du schliefst nicht --- Du warst wach, Dein ganzer
Körper zuckte heftig auf...
Ihr Gesicht verschwand wieder.
Als sie aufblickte, war ihr Gesicht wie verzückt von
Qual und ihre Augen funkelten in einem abgründigen grausamen Schmerz.
--- Sag mehr! Sag doch mehr! stieß sie plötzlich
hervor.
Es fing an, in ihm zu fiebern. Das Blut schoss ihm
jäh ins Gehirn.
--- Ich habe Dich dann vergessen. Ich habe Dich
beinahe zwölf Jahre nicht gesehen. Ich habe mich verheiratet. Und da sah ich nicht mehr das Weib in Dir, nur eine
unendlich teure Schwester... Ja doch! einmal im vorigen
Jahre, als wir beide allein waren und so viel getrunken
hatten! Da wurdest Du plötzlich ganz ungewöhnlich boshaft, Du höhntest mich, machtest pikante Anspielungen
auf meine Heirat und plötzlich warfst Du Dich über mich
her und bissest mich in die Lippen, dass sie bluteten...
Da fing es an, mich heiß zu überlaufen.
--- Hab ich Dich gebissen? Sie lachte hässlich auf.
--- Und dann, als Du bei uns zum Besuche warst und
mir einmal früh Morgens Kaffee ans Bett brachtest...
Sie fuhr wütend auf.
--- Du bist wohl verrückt geworden? Du willst Dir
doch nicht einbilden, dass ich Dich als Weib liebe?
Er lächelte seltsam.
--- Eben hast Du Dich verraten. Du hast mich nie
als Schwester geliebt. Du zittertest immer nach mir, so wie
ich jetzt nach Dir zittre. He, he: Weißt Du noch? Einmal,
als Du Deinen Geburtstag hattest und so viele Kinder zu
uns kamen? Wir spielten Versteck. Immer bist Du zu
mir in die dunkelsten Ecken geschlichen und drücktest
Dich heiß an mich. Sieh mich doch an, lass Dir doch
in die Augen sehen... Weißt Du noch, als wir beide
so heiß wurden und uns beinahe erwürgt hätten in einer
Lust, die sonst Kinder nicht zu haben pflegen? He, he...
Da wurd' ich Mann...
Er schwieg plötzlich, es kam ihm vor, als hätte er zu
viel gesagt.
Sie lachte boshaft.
--- Du willst wohl einen Roman schreiben? Irgend
eine perverse Geschichte von Geschwisterliebe, wie? He,
he, he... Damit düpierst Du mich nicht...
--- Ich will Dich ja gar nicht düpieren. Du glaubst
mir also nicht? Du traust mir nicht? Hör' Agaj, hörst Du
nicht in meiner Stimme diesen entsetzlichen Ernst? Warum
wehrst Du Dich? Warum willst Du nicht zugeben, dass
Du mich liebst? Hast Du mir nicht gestern gesagt, dass
Du beinah verrückt geworden bist, als ich im vorigen
Jahre nach dem Ausland zurückkehrte? Und glaubst Du,
ich weiß es nicht, dass Du der Mutter das Geld gestohlen
hast, um es mir zuzuschicken, als ich in Not war?...
Tut das eine Schwester? Warum? Warum willst Du
es verleugnen, dass Du mich liebst?
--- Ich liebe Dich, wie man einen Bruder liebt, nicht
mehr, sagte sie abweisend.
--- Ha, ha, ha, liebt man so einen Bruder? Das
musst Du einem Kriminalpsychologen erzählen... Warum
wurdest Du jetzt so leichenblass, warum zittern Deine
Hände? Und Du trinkst viel, damit es Dir nur nicht bewusst wird, was ich sage. Quäl' mich doch nicht...
Er wurde ernst, sein Körper bebte.
--- Qual' mich nicht! Ich bin so unerhört glücklich über Deine Liebe... Ich --- ich... seine Stimme
senkte sich bis zum kaum hörbaren Flüstern... Du,
Agaj, es ist etwas Sonderbares in mir vorgegangen...
--- Ich liebe Dich! keuchte er plötzlich und seine
Stimme brach.
Es entstand eine lange Pause. Das Schweigen dauerte
ungewöhnlich lange.
--- Hast Du es nun begriffen? flüsterte er leise.
Sie antwortete nicht.
--- Gestern brach es durch in meiner Seele... Du
warst bei mir in der Nacht... Du bist nicht mehr
meine Schwester...
Sie sah ihn entsetzt an. Um ihre Mundwinkel zuckte
die Qual. Sie gruben sich mit den Augen in einander, ihre
Blicke verflochten sich unlösbar.
--- Das ist furchtbar! sagte sie. Eine kranke Angst
flackerte fiebernd in ihrem Gesicht.
--- Ja, es ist furchtbar, wiederholte er wie abwesend.
Wieder ein langes Schweigen.
Sie fuhr auf.
--- Geh nach Hause! Geh! Geh!
Er hatte sie niemals flehen gehört.
--- Nein, Agaj, ich kann nicht weg von Dir.
--- Aber was willst Du denn von mir? schrie sie
plötzlich rasend auf.
--- Nichts, nichts... Natürlich nichts...
Er lächelte blöde.
--- Gestern noch gab es für mich etwas, das Blutschande hieß, he, he. .. Inzest glaub' ich. Ich kam
in die wüsteste Verzweiflung, als ich entdeckte, dass das
Weib, mit dem ich unerhörte Orgien feierte, meine eigne
Schwester war. Heute hab’ ich die Schwester verloren.
Heute seh' ich Agaj, das Weib, das fremde Weib, das mir
über jedes Weib in der Welt geht, schon deswegen, weil
es Blut von meinem eignen ist, ein physisches Stück
von mir.
Er stockte plötzlich.
--- Du, Agaj, Du fürchtest den Inzest?
--- Ich fürchte ihn gar nicht. Sie lachte höhnisch.
--- Aber? aber? Er sah sie mit zitternder Angst an,
als sollte jetzt über sein Leben entschieden werden.
Sie blickte ihm starr mit einer grausamen Kälte in
die Augen.
--- Aber? Du fragst: aber? Es gibt kein Aber, weil
Du für mich gar nicht als Mann existierst. Du bist einfach mein Bruder.
--- Du lügst! Du lügst! Warum quälst Du mich mit
Deinen Lügen? Zerstöre doch nicht das Heiligste in mir,
das, wovon ich lebe, was den ganzen Inhalt meiner Seele
ausmacht.
--- Du hast Deine Frau vergessen, Du hast Fieber,
Deine Hände glühen, und Deine Augen saugen sich giftig
wie Tollkraut in mein Blut... Ich will Dich nicht sehen.
Du zerstörst meine Seele, Du...
Sie kam plötzlich zur Besinnung und schnellte höhnisch auf.
--- Lächerlich: Grenzenlos lächerlich! --- sie raste ---
Du hast das schönste, das herrlichste Weib zur Frau, nie
hab' ich ein so herrliches Weib gesehen... und --- und
Du hast an ihr nicht genug und läufst einem andren Weibe
nach, das noch obendrein Deine Schwester ist.
--- Oh, oh, Du läufst mir ebensoviel nach, wie ich
Dir... He, he... Nur feig bist Du, feig. Du wagst
es nicht zu gestehen. Aber, als ich Dir gestern sagte, dass
ich vielleicht heute wegfahren werde --- glaubst Du, dass
ich die Qual nicht gesehen habe und die Mühe, die Du
hattest, um sie zu verbergen? Ich verehre mein Weib,
aber ich liebe Dich. Versteh' es doch: Dich, Dich lieb'
ich. Du hast Dich seit Deiner Kindheit nach diesem
Worte, diesem: ich liebe Dich! gesehnt. Du hast gezittert, dass ich es Dir nur sage. Du wolltest es von mir
erzwingen und jetzt, jetzt, da ich es endlich gesagt habe,
willst Du mich so brutal zurückstoßen? Du glaubst vielleicht nicht, dass es mir Ernst ist, weil es so jäh und unerwartet gekommen ist. In einer Sekunde von Qual...
Aber ich lebe jetzt nur in diesem Gefühl, mein Gehirn
wühlt sich mit fiebernder Wollust in die Zeit, als Du
Deine Gier noch nicht zu verbergen verstandest. Plötzlich
ist meine Seele aufgebrochen, ich erinnere mich an jedes
Wort, das Du vor zwölf Jahren gesagt hast, ich erinnere
mich an die tausend Dinge, tausend Kleinigkeiten, tausend
Blicke und Bewegungsmomente aus jener Zeit, ich erinnere
mich an alles, das mir gestern noch vergessen war...
Er taumelte, verlor plötzlich den Gedankenfaden und
sann eine Weile nach.
--- Nein, nein, ich liebe Dich nicht seit gestern, ich
liebe Dich seit langem. Das war nur zufällig, dass es mir
gestern grade zum Bewusstsein kam. Du hast mir immer
gefehlt. Sieh: ich war ja glücklich mit meinem Weib,
aber immer, immer sehnt' ich mich nach Dir.
Die Qual floss in ihm über, es würgte ihn, kalte
Schauer strömten ihm über den Rücken, er schüttelte sich
in Fieberfrost.
--- Ich verehrte, ich liebte bis zum Wahnsinn Deine
Liebe. Ich zitterte, um nur einen Brief von Dir zu bekommen. Und wenn ich Ihn bekommen hatte, las ich ihn
und las unaufhörlich. Ich las das alles, was Du nicht
schreiben konntest, was aber in jedem Worte zitterte, ich
ging wochenlang mit Deinen Briefen umher damals schon,
als ich noch nicht ahnte, dass Du mir das werden solltest,
was Du mir heute bist. O, ich liebe jedes Wort von Dir,
ich liebe Deine grausame Seele, die nicht genug Schmerzen
finden kann, um sich darin zu vergraben, ich liebe Dein
kleines, braunes Gesichtchen mit den abgründigen Augen,
ich liebe die Seide, die Deinen Körper umschließt, ich
liebe die Formen dieses Körpers, ich fühle ihn wie er
sich an mich presst, mich umschlingt, ich sehe Deine
kleinen Brüste, ich fühle sie sich in meinen Körper hineinglühen. Ich... ich...
Er fing an zu stottern. Es raste in ihm, sein Gehirn
schwoll an zu einer riesigen Aderbeule. Dann begann er
wieder zu sprechen, sinnlos, ohne Zusammenhang, die Worte
kamen wie von selbst, glühend, krank, wie herausgeschleudert aus einem Vulkan.
Sie hielt seine Hand in stummem Krampf umschlossen,
sie vergrub schmerzhaft ihre Finger in seine Haut. Sie
fasste ihn ums Handgelenk und presste wieder seine
Finger: es war wie ein irres Gejauchze in dieser taumelnden, flackernden Hand.
Da wurde sie plötzlich grenzenlos unruhig. Sie hörte
nichts mehr, sie sah nichts mehr. Sie faltete die Hände,
dass alle Gelenke knackten, dann ballte sie die Fäuste und
spreizte wieder die Finger.
--- O Gott! stöhnte sie keuchend.
Jäh rückte sie weg.
--- Sag jetzt kein Wort mehr, schrie sie auf, kein
Wort! Ich gehe --- ich gehe sofort, wenn Du nur noch
ein Wort sagst.
Er sank zusammen.
--- Nein, nein, ich will nichts mehr sagen. Ich kann
auch nicht mehr, murmelte er müde.
Ein Schweigen, ein tötendes Schweigen, das langsam
einen Nerv nach dem ändern zersägte.
--- Komm! sagte sie endlich und stand auf.
--- Wohin?
--- Ist es Dir nicht gleichgültig, wohin Du mit mir
gehst? Sie lachte ihn höhnisch an. Du willst ja nur mit
mir zusammen sein.
--- Aber nur mit Dir! Nur mit Dir allein! Ich habe
Ekel vor Menschen, ich mag keinen Menschen sehen. Ich
spucke auf die Menschen! Ich kann die menschliche
Fratze nicht ausstehen.
--- Komm! sagte sie mit hartem Befehl.
Er sah sie erstaunt an, blieb eine Weile sitzen, starrte
sie unaufhörlich an, dann erhob er sich und ging.
--- Es hat mir noch kein Mensch etwas befohlen,
sagte er leise auf dem Wege. Kein Mensch. Ich wusste
bis jetzt nicht, was gehorchen heißt, bis Du jetzt plötzlich
sagtest: Komm! Und ich gehorche...
Er lachte boshaft auf.
--- Und Du willst mir vorlügen, dass Du mich nur als
Schwester liebst? Du liebst mich ja nur als Weib! Du
hast ja nur gewartet auf das Wort: Ich liebe Dich! und
gleich bist Du wie verwandelt. He, he: Du weißt jetzt,
dass Du mir befehlen kannst, was Du früher nicht wagtest.
Woher diese Instinkte, die nur ein liebendes Weib hat,
woher dies feine Ohr für „ich liebe Dich“ und seine Konsequenzen? Warum lügst Du? Du sehnst Dich nach mir,
Du hast dieselbe rasende Gier, Du... Du...
Sie blieb stehen und sah ihn wütend an.
--- Wenn Du noch ein Wort sagst, geh' ich weg.
Er lachte laut auf.
--- Versuch' es doch! Geh! Geh! Dir ist es ebenso
unmöglich wegzugehen, wie mir... Oh, wie Du schön
bist! Wie Dein Gesicht flackert!... He, he, he...
Wo hab' ich nur meine Schwester verloren?
Er schob seinen Arm unter ihren und presste ihn
krampfhaft an sich.
--- Ich muss Dich halten. Ich bin nicht sicher, ob
Du am Ende doch nicht weggehst. Du bist grausam
gegen Dich. Deine Seele hat wirklich nicht Qual genug,
noch lange nicht genug. Du würdest in der Hölle
glücklich werden. Und jetzt, jetzt quälst Du mich. Du
möchtest mich auf die Folter spannen, damit Dir nur das
Herz an meinen Qualen berstet. Oh je m'y connais: das
ist die höchste Wollust, aber meine Nerven sind zu schwach
dazu...
Er lachte irre.
Sie kamen in eine Gesellschaft. Plötzlich --- Mit einem
Mal. Eine lange Zwischenzeit ging wohl seinem Gehirn
verloren. Es wurde ihm nicht klar, wie er so plötzlich
hergekommen war.
Im Nu wurde er nüchtern und kalt.
Er sprach sehr vernünftig mit einem Herrn, der eine
sammetne Weste und oben auf dem Vorhemd einen Diamanten hatte. Bei Tisch bekam er zur Nachbarin ein junges,
frisches Mädchen, das eine sonderbare Freude am Lachen
hatte.
Plötzlich wieder ein Lichtpunkt: Er begegnete Agaj’s
Augen.
Er las in ihrer Seele, wie ein Somnambule. Eine
Sehnsucht sah er in den Augen, einen kauernden, zusammengekrampften Schmerz: ihre ganze Seele gerann in diesem
langen, gierig schmerzlichen Blick.
Alles um ihn herum verschwamm zu einem wirren
Gemenge von Messerklirren, Lachen, Sprechen, dann hörte
er ein unangenehmes Geräusch wie wenn Stühle gerückt
wurden. Er sah die finstre Masse von menschlichen Leibern,
die vor seinen Augen flirrte, sich hochheben, mechanisch
stand er auf.
Plötzlich erlangte er das Bewusstsein.
Er sah die Menschen in den Salon treten. Er versuchte den Andren zu folgen, aber er blieb wie angewurzelt
stehen. Etwas zerrte ihn zurück. Er sah sich um. Ihm
gegenüber stand ein dunkles Nebenzimmer offen. Er wurde
von einer fremden Hand dahin gestoßen. Es kam ihm vor
als taumelte er hinein: seine Beine gingen wie von selbst,
er widerstrebte nicht mehr: in dem dunklen Zimmer
besann er sich auf sich selbst.
Eine unheimliche Angst krallte sich in seiner Seele fest.
Das ist ihr Wille! Sie hat ihn mir auferlegt! Ihr
fürchterlicher, körperlicher Wille. Der Gedanke, der
Macht geworden ist, eine riesige Macht mit Blut gefüllt,
mit langen, gespenstigen Händen...
Er lallte es vor sich hin, um sich zu beruhigen.
Er saß sehr lange in dumpfer, irrer Schwüle. Plötzlich schrak er auf: sie saß bei ihm.
--- Agaj?!
--- Still!
Sie fasste seine Hand. Es goss sich über ihn wie ein
kochender Strom. Sein Körper fing an zu zucken. In
seinem Gehirne klopften kurze, schmerzhafte Schläge.
Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Es warf sie
auf einander.
Sie versanken, sie vergingen in dieser stummen Brunst
ihres Blutes. Kopfüber sinnlos stürzten sie sich in den
grausigen Wirbel der geschlechtlichen Ekstase.
Ab sie sich loslosten, hielten sich noch ihre Hände
umklammert, als wären sie selbstständige Organe geworden.
--- Ich kann Dir nichts mehr geben, fühlte er sie
sprechen, aber er konnte sich nicht besinnen, ob er einen
Laut gehört hatte.
--- Deinen Leib! Deinen Leib! stammelte er.
--- Du hast mich ja gehabt.
--- Wann? Wann?
--- Heute Nacht.
Er blieb einen Augenblick bewusstlos. Sie war plötzlich verschwunden.
Seine Seele löste sich qualvoll in wachsender Angst.
War sie es selbst? War es nur eine Vision?
--- Sie sind wohl krank? fragte ihn der Herr mit der
sammetnen Weste, als er in den Salon trat.
Er hörte kaum hin. Seine Augen flogen suchend umher. Endlich entdeckte er sie. Sie saß da regungslos
mit einem kalten Sphinxgesicht und sah ihn ruhig an.
Er ging auf sie zu.
--- Bist Du da drin bei mir gewesen? fragte er
zitternd.
--- Bist Du nicht sicher? sie lächelte seltsam.
--- Ich habe Angst vor Dir, Du --- Du Satan! Er
zitterte immer heftiger.
--- Warum denn? sie drehte sich gleichgültig um
und fing an mit einem Herrn zu sprechen.
Seine Seele kroch zusammen. War dies das Weib,
das sich vor ein paar Minuten mit dieser uferlosen Leidenschaft an ihn gepresst hatte?
--- Ich fahre morgen nach Hause! flüsterte er ihr
wütend zu.
Sie sah ihn an.
--- Ja, es ist die höchste Zeit, sagte sie kalt. Noch
zwei Tage und Du wirst verrückt.
--- Du bist brutal! Er schrie fast.
Sie drehte sich wieder um und sprach weiter mit dem
fremden Herrn.
Er wurde plötzlich sehr ruhig. Als wäre alles in
ihm geborsten. Er verschwand unauffällig und trat ins
Entrée.
--- Du fährst nicht! Er sah sie zittern und ihre Augen
fraßen glühend an ihm. Du fährst nicht! Ich werde Dir
die Seele aus dem Leibe reißen, wenn Du fährst.
Er hörte ihre Zähne wie in Schüttelfrost an einander schlagen.
Er sah sie verächtlich an.
--- Ich habe nichts mehr mit Dir zu tun, sagte er
langsam und kalt.
--- Du fährst nicht! keuchte sie.
--- Ich fahre! Ich will nicht mehr meine Seele prostituieren. Ich muss Dich in meinem Herzen vor diesem herzlosen Weihe da --- er zeigte verächtlich mit dem Finger
auf sie --- retten... die Trümmer retten.
Er lächelte wie im Traume.
Sie klammerte sich an ihn.
--- Du bist morgen Nachmittag dort, wo Du heute mit
mir warst... Bist Du nicht da, so, so...
--- So?
Sie trat dicht an ihn heran. Sie sahen sich lange in
die Augen.
Ohne ein Wort gingen sie auseinander.
Er wartete lange vergebens.
Er legte die Stirn in tiefe Falten und lächelte. Er
lächelte immer. Ein blödes, irres Lächeln war wie versteinert um seine Lippen.
Sein Fieber wuchs und schwoll. Lange feine Nadelstiche fuhren ihm durch den Hals. Gedanken, schmerzhaft,
wirbelten wie glühende Metallspähne durch seinen Kopf.
Fünf Minuten noch wollte er warten, nur fünf
Minuten.
Ein stiller, irrer Triumph flammte in seiner Seele auf.
--- Oh, wenn sie nicht käme, er würde sie dann los
werden.
Er fühlte es sicher.
Da zuckte er auf: ein bekannter Mensch! Er druckte
sich tief in das Sofa hinein, faßte die Zeitung und verdeckte mit ihr sein Gesicht.
Aber der Andere hatte ihn schon gesehen. Er kam
ruhig an ihn heran und setzte sich neben ihn.
--- Ihre Schwester wird wohl bald kommen, sagte er,
ich habe sie heute getroffen, sie sagte mir, sie würde herkommen.
--- Hat sie das gesagt?
--- Ja.
Er biss vor Wut die Zähne aneinander. Griff wieder
nach der Zeitung und fing an zu lesen. Aber er verstand
kein Wort. Eine dumpfe kauernde Ohnmacht legte sich
mit dicker Kruste um sein Herz. Er fühlte es sich an der
Rinde wundschürfen.
So saßen sie wohl eine Stunde.
Endlich sprang er auf.
--- Warten Sie nur auf meine Schwester. Ich muss
jetzt gehen.
--- Müssen Sie wirklich gehen?
Er trat taumelnd auf die Straße.
Er konnte kaum gehen. Die wilde Wut gegen das
Weib machte sein Blut stocken. Er war nahe am Weinen.
Seine Kräfte verließen ihn zusehends. Es würgte ihn,
als schluckte er brandigen Qualm.
Er setzte langsam einen Fuß vor den andern. Jeder
Schritt tat ihm weh im Gehirn: würde er schneller gehen,
müssten alle Adern reißen.
Das Bewusstsein fing an, ihn zu verlassen.
Er wiederholte sinnlos einzelne Sätze, faselte vor sich
hin, lachte still und rieb sich die Hände.
Und wieder flammte der stille Triumph in ihm auf:
er brauchte sie nicht zu sehen. Er war befreit, erlöst von
seinem Vampir.
Er lächelte.
Da blieb er plötzlich stehen: sein Herz krampfte sich
heftig zusammen: in der Ferne sah er ein schwarzes, seidenes Kleid knistern... Nein! es war nicht Agaj.
Die Unruhe bäumte sich in ihm hoch auf. Unruhe
und würgende Sehnsucht.
Nein, nein --- er musste nach Hause gehen. Sich ins
Bett legen. Er war ja todkrank.
Die Sonne schien ihm stechend in die Augen. Er
fühlte die scharfen Strahlenstöße sich gellend ihm in die Nerven keilen. Es schwindelte ihn: er setzte sich auf eine Bank.
Ekelhaft, mitten auf der Straße ohnmächtig zu werden!
fuhr es ihm plötzlich durchs Gehirn. Die Vorstellung
von einem Auflauf, einer Tragbahre rüttelte ihn mit einem
Male auf.
Er strengte sich an, die Menschen, die wie Schatten
an ihm vorüberglitten, zu sehen, deutlich zu sehen, sie voneinander zu unterscheiden.
Da sah er plötzlich sie. Es kam ihm vor, als hätte
er sie schon früher einmal vor seiner Bank auf-- und abgehen gesehen.
Sie ging ruhig, grüßte freundlich nach allen Seiten
und hatte rote Handschuhe an. Lange scharlachrote
Handschuhe.
--- Agaj! schrie er auf.
--- Nun? was machst Du hier?
Er nahm sie schweigend unter den Arm und führte sie
in ein abgelegenes menschenleeres Café.
Es war Macht in ihm.
--- Wenn Du noch einmal --- seine Stimme erstickte
in Wut --- wenn Du noch einmal mir Menschen auf den
Hals schickst, werd' ich Dich, werd' ich...
Sie sah ihn lachend an.
--- Was denn?
Er beruhigte sich plötzlich. Seine Macht schmolz
wie Glas im Feuer. Er lächelte wieder. Da schrak es
wieder in ihm auf. Eine Erinnerung fühlte er lauernd
kauern, und plötzlich jäh emporschnellen:
--- Hast Du mir nicht gestern gesagt, dass ich Dich
heute erwarten sollte?
--- Nein!
--- Lüg' nicht, Agaj, nicht jetzt, um Gotteswillen. Ich
habe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn... Hast
Du, --- hast Du es wirklich nicht gesagt?
Sie schwieg.
--- Sag' es, sag' --- ich weiß ja nicht sicher. Alles
verfließt in meiner Seele. Ich konnte nicht begreifen,
warum ich dort auf Dich wartete.
Sie zuckte auf.
--- Ja, ich habe es gesagt.
Er atmete schwer.
--- Warum hast Du mich denn bestellt, wenn Du
nicht kommen wolltest?
--- Ich will nicht mehr mit Dir allein sein, sagte
sie kalt.
--- Nicht mehr?
--- Nein!
Er sann nach und erhob sich.
--- Ja, dann will ich nicht mehr mit Dir zusammen
sein, Agaj. Ich kann nicht mit Dir zusammen sein, wenn
Menschen dabei sind. Ich habe Ekel vor Menschen. Ich
kann keinen Menschen außer Dir sehen. Nein, Agaj, ich
will es nicht.
Sie fasste ihn an der Hand. Er setzte sich wieder.
Sie war ernst und traurig.
--- Kannst Du denn nicht zur Vernunft kommen?
Verstehst Du nicht, dass alles aussichtslos ist, verstehst
Du's nicht?
--- Warum aussichtslos?
--- Weil ich Deine Schwester bin.
--- Du lügst. Daran denkst Du nicht einen Augenblick.
Du liebst die Qual, Du kannst Dich nicht genug an Deiner
und meiner Qual sättigen...
Sie schwiegen lange.
--- Hör' Agaj, ist es... ja --- nicht wahr? Du liebst
meine Frau sehr.
--- Ja.
--- Und wenn sie nicht da wäre?
--- Vielleicht.
--- Vielleicht?
Sie antwortete nicht.
Wieder Schweigen.
--- Ich will bei Dir bleiben, sie sprach flehend. Ich
will immer mit Dir zusammen sein, aber nicht allein. Das
dürfen wir nicht. Ich bitte Dich darum.
--- Hast Du Angst vor mir?
--- Vor mir selbst. Und Du liebst mich doch. Kannst
Du es nicht meinetwegen tun?
--- Was denn?
--- Du sollst nicht wollen, mit mir allein zu sein, ---
und... und, sie senkte den Kopf --- Du sollst mich nicht
mehr berühren. Ich habe einen unaussprechlichen Ekel
davor, sagte sie hart.
--- Hast Du Ekel vor meiner Berührung?
--- Ja!
Über seinen Körper rieselte es wie von einer glühenden, zu Perlen zerstäubten Metallmasse. Seine Seele
schrumpfte wund zusammen. Er fühlte Scham und Ekel
vor sich selbst. Er hatte das Weib berührt, das Ekel
vor ihm --- vor ihm empfand.
Er kam zu sich. Eine kalte, trockene Klarheit fühlte
er in seinem Kopfe, wie Wetterleuchten zuckte wieder der
stille Triumph der blutenden befreiten Seele auf.
--- Ich danke Dir, dass Du jetzt endlich ehrlich bist...
Du hast Recht... Nie werd' ich mehr darüber sprechen,
noch Dich berühren.
Er sah nur die Krampe ihres Hutes. Ihr Kopf war
tief gesenkt und die Hände in den roten Handschuhen
weit über den Tisch gestreckt.
--- Vielleicht sollen wir den Menschen aufsuchen, den
Du mir zur Unterhaltung geschickt hast?
--- Nein!
--- Dann wollen wir andere Menschen aufsuchen.
--- Nein!
Lange Pause. Er war ganz ruhig. Sein Fieber war
mit einem Mal verschwunden. Er war wie von einem
Bann erlöst.
--- Nun, sieh doch auf! sagte er freundlich nach einem
langen Schweigen. Jetzt können wir ruhig und vernünftig
mit einander sprechen. Jetzt hast Du erreicht, was Du
wolltest. Ja, Du kennst mich, Du weißt, wie schamhaft
meine Seele ist. Meinetwegen kannst Du jetzt tausend
Menschen aufsuchen. Ich habe auch kein Bedürfnis mehr,
mit Dir allein zu sein. Übrigens möcht' ich Dir den verfluchten Hut am liebsten vorn Kopfe reißen. Diese große
Krampe ist sehr bequem... Ha, ha, ha. .. Nun, Agaj,
liebe Schwester, kannst Du mit Deinem Bruder nicht vernünftig sprechen?
Sie sah plötzlich zu ihm auf.
Er glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen.
--- Agaj! sagte er langsam.
Die Tränen liefen über ihre Backen herab.
--- Du weinst? fragte er kalt und ruhig.
--- Nein! sagte sie rau.
--- Du weinst ja, ich sehe es doch! Und ich sitze
und zerbreche mir den Kopf, warum Du eigentlich weinst.
Ich glaube nicht an Deine Tränen. Deine Seele ist verlogen. Sie sucht nur krampfhaft nach neuen Martern...
Ha, ha, vielleicht hast Du die Fähigkeit, zu weinen, wann
Du willst? Willst Du mich mit Deinen Tränen kirren?
Sie sah ihn an: ein Blick, der in würgendem Krampfe
schrie. Aber nur einen Moment, im Nu sah er einen
wilden Hass aus ihren Augen stechen, zu einem bohrenden,
saugenden Licht sich weiten und heiße Brände in seine
Seele werfen.
Es dauerte eine Ewigkeit. Dann zersprang gellend
das Licht in ihren Augen, ihr Gesicht wurde hart, sie
sah vor sich hin, dann starrte sie ihn wieder an mit einem
glasigen Ausdruck, und plötzlich schoss der dumpfe Hass
wieder auf, sie warf sich ins Sofa zurück.
--- Nun! Gott sei Dank ist Dein Fieber vorüber, sagte
sie mit lachendem Hohn, jetzt kannst Du zu Deiner Frau
zurückkehren und ihr die Erlebnisse mit Deiner Schwester
erzählen.
--- Ja, das werd' ich.
--- Hast Du oft dieses Fieber? höhnte sie. Ich meine:
betrügst Du oft Deine Frau unter dem Schutze dieses
Fiebers?
--- Sehr oft. Hier zum Beispiel habe ich ein Mädchen,
ein Kind noch, bei dem ich jede Nacht schlafe.
Sie schrie leise auf. Er sah sie mit höhnischer
Wut an.
--- Hat es sehr weh getan? grinste er boshaft.
--- Du lügst! schrie sie unterdrückt auf.
--- Nein! Wozu sollt' ich lügen?
--- So, so... Warum bettelst Du denn bei mir?
--- Ich bettle nicht. Hab’ ich gebettelt? Davon
weiß ich nichts... Und, und, ich bitte Dich um Verzeihung für alles, was vorgefallen ist. Ich empfinde mich so
grenzenlos lächerlich. Eigentlich solltest Du mich nicht
so schmerzhaft beschämen. Nun, ich hoffe, dass Deine
Seele jetzt vor Freude jauchzt...
Ihre Hände bewegten sich nervös.
Er wurde noch freundlicher.
--- Wundervolle Handschuhe hast Du. Das sieht sehr
pervers aus. Das ist à la Rops. Du hast überhaupt die
Gestalt, die Rops immer zeichnet. Und auch die gierige,
freche Unschuld... Ha, ha, ha... und Du verstehst
Dich zu kleiden! Das Seidenkleid lieb ich sehr. Es ist
ein solch wollüstiges Gefühl in den Fingerspitzen, ja, ja ---
Deine Seide stäubt mir Wollust in die Adern... Nun,
Du scheinst gar nicht auf mich zu hören... Ich habe
Dir auch nichts Interessantes mehr zu erzählen. Das, was
an unserem Verhältnis interessant und pikant war, was
nach Satanismus und Inzest schmeckte, ist ja nun vorüber.
Jetzt können wir zu den zweifelhaften Freuden des Werktags zurückkehren.
Sie sah ihn plötzlich lange und durchdringend an.
Ihre Augen funkelten in einem seltsamen Lächeln.
--- Du hast Fieber, sagte sie langsam. Jetzt erst seh'
ich, wie krank Du bist. Deine Augen sind eingefallen.
Deine Augen glühen wie Kohlen, Dein Gehirn ist krank.
Du kannst nicht mehr die Wirklichkeit von der Vision
unterscheiden. Du siehst das Gras in meiner Seele wachsen.
Und manchmal überhörst Du ganze Sätze, ist es nicht so?
Er stutzte, dann lachte er boshaft auf.
--- Ja, ja, ich verstehe Dich. Jetzt hab’ ich natürlich
Fieber, well ich anfange, vernünftig zu sprechen. Ich habe
Fieber, weil ich Deine quallüsterne Phantasie nicht erhitze.
Ich verstehe Dich. Du hast Sehnsucht nach den irrsinnigen
Worten meiner Liebe.
--- Ja!
Es klang wie ein langer Satz.
--- Ja? Ja? Das sagst Du so frech, nachdem Du meine
Seele zertreten hast? Sagtest Du nicht vor ein paar Minuten,
dass Du Ekel vor meiner Berührung hast? Nein, nein ---
meine Seele ist spröde, ich will mich nicht prostituieren
vor Dir.
Er kam plötzlich in eine Ekstase von Raserei. Sein
Gesicht fühlte er zucken und das Fieber befiel ihn von Neuem.
Er verlangte Wein.
--- Willst Du mittrinken, Agaj?
--- Ja. Viel --- viel...
Er suchte, seine Ruhe zu bewahren. Sie bettelte mit
den Augen.
Er trank schnell und stützte den Kopf in die Hände.
Er hatte sie plötzlich beinah' vergessen. Sein Fieber ließ
nach. Nur ein Schmerz, ein brandroter Schmerz glühte
in seinem Hirn.
Da fühlte er von Neuem ihr Locken. Er merkte,
dass sie ihm langsam näherrückte --- noch näher und plötzlich presste sie heftig ihr Bein an das seine.
Wieder empfand er die kurzen, schmerzhaften Zuckungen
in seinem Kopf, wie von heftigen Hammerschlägen.
Sie saßen regungslos. Sie über den Tisch gebeugt,
schwer und heiß atmend.
--- Ich habe gelogen! flüsterte sie leise, trank das
Glas leer, füllte es von Neuem, leerte es wieder.
--- Trink doch! Ihre Stimme zitterte.
Es schwindelte ihm. Er hatte plötzlich alles vergessen. Er fühlte nur die körperliche Wärme ihrer Glieder
sich um ihn legen, er fühlte sie sich an seinen Körper
schmiegen, heiß, sinnlos, zuckend...
Sein Gehirn taumelte. Er fing an zu sprechen, leise,
flüsternd. Er bebte am ganzen Körper. Seine Hände
irrten unstet.
Ihre bettelnde Hand umkrallte die seine, zerwühlte
fiebrig seine Finger und kratzte sie wund.
Da weiteten sich ihre Augen und sie sah ihn an mit
einem Blick: ihre Seele verblutete in Angst und Verzweiflungsschmerz.
Er schwieg.
Beide kamen zum Bewusstsein.
Das Gespräch stockte. Sie sprachen gleichgültig über
gleichgültige Sachen, von Zeit zu Zeit schwiegen sie lange,
und dann kam es wieder von Neuem, ohne dass sie wussten,
wer zuerst angefangen hatte.
--- Und erinnerst Du Dich, Agaj, einmal als wir
badeten? Ich habe Dir beim Auskleiden geholfen. Du
hast Dich plötzlich gesträubt, und wurdest so furchtbar
rot... He, he: wir waren eigentlich keine Kinder mehr.
Und mit einem Ruck empfand ich eine so grenzenlose
Liebe zu Dir... erinnerst Du Dich? Wir warfen uns
in den Sand und pressten uns so wild aneinander, dass wir
beide vor Schmerz aufschrien. Dann nahm ich Dich auf
meine Arme und trug Dich ins Wasser. Du warst so
übermütig, wie es nur ein Weib sein kann, das plötzlich
fühlt, dass es geliebt wird. Ich sollte Dich schwimmen
lehren, aber Du sankst immer unter... O Gott, jetzt,
jetzt seh ich Dich wieder als die herrliche Agaj von zwölf
Jahren, die mich so sinnlos geliebt hat. Jetzt siehst
Du mich wieder so gut, so innig an, wie Du mich
früher immer angesehen hast. Du höhnst nicht mehr, Du
bist nicht mehr boshaft, und jetzt bin ich wieder Dein
Hund, ich bin wieder Deine Sache, Du kannst mit mir
machen, was Du willst, Du kannst mir die Seele aus dem
Leibe reißen, und ich werde Dir noch dankbar sein dafür, weil Du, Du es bist...
--- Quäl’ mich doch nicht, quäl' mich nicht so unerhört!
flehte sie plötzlich.
Er lehnte sich zurück. Sein Kopf brannte. Seine
Zunge war trocken und ein dicker, schleimiger Speichel
sammelte sich in seinem Mund.
--- Das ist furchtbar! hörte er sie leise sagen.
Der Abend kam, es wurde allmählich dunkel.
Sie saßen dicht aneinander gekauert.
--- Es ist dunkel, sagte sie.
--- Ja, es ist dunkel.
--- Siebst Du den Mond durch die Zweige bluten?
--- Still! still!
Lange sprachen sie kein Wort.
Sie pressten sich noch enger an einander, noch fester,
sie umklammerten sich, und in ihrem Schweigen, in ihrer
Umarmung war Schmerz.
Plötzlich riss de sich los.
--- Jetzt geh ich nach Hause, sagte sie hart.
Er fuhr rasend auf.
--- Wenn Du jetzt gehst, jetzt --- jetzt... dann...
dann... wirst Du mich nicht mehr sehen.
Eine entsetzliche Angst zitterte in seiner Stimme.
--- Agaj! Wenn Du nur eine Spur von Liehe hast,
so geh nicht jetzt, ich werde wahnsinnig...
--- Wir haben wieder Deine Frau vergessen, lachte
sie hart.
--- Machst Du mir einen Vorwurf aus meiner Frau?
Ich werde sie nie mehr sehen, wenn Du es willst, ich
werde sie vergessen, wenn Du es befiehlst...
--- Gott, wie krank Du bist! höhnte sie.
--- Ich bin nicht krank. Ich liebe Dich. Ich ---
ich... Du Agaj verlass mich nicht, Du wirst es bereuen,
es wird schlimm mit mir werden.
Er flennte wie ein Kind.
--- Nun fängst Du an, sentimental zu werden. Sie
lachte heiser auf.
In einem Nu kroch seine Seele zusammen. Als erstarrte alles in ihm zu Eis.
Er sah sie lange sprachlos an, dann setzte er sich wieder.
Sie betrachtete ihn mit einer grausamen Neugierde.
Sie schwiegen sehr lange.
--- Kann ich Dich begleiten, oder willst Du allein
nach Hause gehen? fragte er trocken.
--- Ich werde allein gehen. Geh' Du auch, Du bist
ernstlich krank.
--- Was ich zu tun habe, darüber hab' ich selbst zu
bestimmen. Er lächelte gehässig.
Sie sah ihn lange an.
--- Gott, wie entsetzlich dumm Du bist! sagte sie endlich. Wie ekelhaft seid ihr alle --- ihr Männer.
--- Ich habe nur Prostituierte so von Männern sprechen
gehört. Sie hassen auch den Mann.
--- Du bist brutal!
--- Du viel mehr.
--- Ich hasse Dich! Ich will Dich nie mehr sehen.
--- Ich auch nicht.
Aber als sie gehen wollte, fasste er sie an der Hand.
--- Verzeih' mir, ich bin krank.
--- Ja, ja, fahr nur schnell zu Deiner Frau zurück.
Bei ihr wirst Du schon Dein Fieber verlieren.
Sie sah ihn höhnisch an.
--- Du willst wohl, dass ich mich zuerst von meiner
Frau trenne? Dann wirst Du wohl Mut bekommen? Ha,
ha, ha --- Wie feig, wie feig Du bist!
Sie schien es zu überhören.
--- Du wirst doch wohl endlich einmal die Mutter besuchen? Wie? Sie ist morgen Vormittag zu Hause.
--- Nein! Danke!
Sie ging an die Tür.
--- Du gehst wirklich, Agaj?
--- Ja.
Plötzlich blieb nie stehen. Ihre Augen funkelten in
wildem Hass.
--- Ist es wahr, dass Du hier ein Mädchen hast, ein
Kind noch, wie Du sagtest?
--- Ja, ich habe mir meine, verstehst Du? meine frühere
Agaj aufgesucht.
--- Das ist ja wundervoll! Oh, wie ich Dich hasse!
--- Verrate Dich doch nicht immer!
Sie machte die Türe auf.
--- Du, Du, Agaj, warte ein wenig... Ich habe Dir
etwas Interessantes zu sagen.
Er lachte boshaft, ging auf sie zu und flüsterte ihr
leise ins Ohr:
--- Weißt Du, dass Du heute Nacht bei mir in meinem
Bette lagst?
Sie stieß ihn zurück und verschwand.
Er wurde ganz ruhig.
Nun war alles vorüber. Nun musste er nach Hause
gehen. Und er konnte zu seiner Frau fahren, ohne Agaj
ein Wort zu sagen.
Er trat auf die Straße.
Der Tag war zu Ende. Es war schon ganz dunkel,
und aus dem Dunkel mühten sich die Glutaugen des
elektrischen Lichtes hervor.
Menschen gingen in großen Scharen an ihm vorüber.
Sie gingen wohl ins Theater.
Er lächelte.
Der Weg ging durch einen Park. Kein Mensch. Eine
starre, öde Stille.
Er ging ganz langsam. In seinem Körper war wohl
nicht ein Muskel, der ihn nicht schmerzte.
Plötzlich bemerkte er eine schwarze Masse, die auf
ihn zuzugleiten schien, er sah nicht, dass sie ging.
Er blieb erstarrt stehen.
Die schwarze Masse war einen Schritt von ihm entfernt und blieb auch stehen.
In sinnloser Angst sah er hin.
Aus dem Dunkel quoll leuchtend ein Gesicht hervor
mit grässlich verzerrten, entstellten Mienen und qualvoll
aufgerissenen, blutigen Augen.
Das war er selbst!
Das Gesicht schien sich zu bewegen, es öffnete den
Mund, bewegte ihn, einen Schrei hörte er gellen...
Er stürzte sich in Wahnsinn auf den Andren los.
Aber die schwarze Masse schien zurückzuweichen und
blieb wieder stehen.
Die Augen rissen sich noch weiter auf --- über das
Gesicht glitt ein höhnendes Grinsen.
Er wollte zur Seite weichen, der Andre verstellte ihm
den Weg.
Die Augen sogen sich gierig ihm ins Blut --- seine
Augen. Sie starrten ihn an, dann sah er den Andren
langsam näher rücken, noch näher, das Gesicht berührte
fast das seine: er schrie auf, schloss die Augen zu und
fing an zu laufen, sein Kopf dröhnte, klopfte, barst: er
stürzte hin.
Als er zu sich kam, schleppt' er sich zu einer Bank
und setzte sich hin.
Ein Paroxysmus von wüstester Verzweiflung raste durch
seinen Körper.
Das ist Wahnsinn! zuckte es ihm durchs Gehirn.
Er fühlte den Andren hinter seinem Rücken.
Er stand auf und fing an zu gehen, sein Herz schlug
nicht mehr. Die Verzweiflung kippte um in ein blödes,
irres Brüten.
Er glaubte Schritte zu hören Es war da. Dicht
hinter ihm.
Plötzlich verlor er das Bewusstsein. Er hörte nichts
und empfand nichts mehr.
Als er nach Hause kam, setzte er sich im Speisezimmer
vor den gedeckten Tisch, stützte seinen Kopf mit beiden
Armen und verfiel in einen brütenden Halbschlaf.
--- Wollen Sie etwas essen?
Er sah entsetzt auf, starrte lange gedankenlos hin, endlich erkannte er das Dienstmädchen.
--- Wollen Sie etwas essen? wiederholte das Mädchen
und sah ihn mitleidig an.
Er schüttelte den Kopf und starrte sie unaufhörlich an.
--- Sie sind sehr krank, sagte sie endlich. Soll ich
den Arzt holen?
--- Den Arzt?
--- Ja, den Arzt.
Er besann sich lange.
--- Nein! Ich will nicht. Lassen Sie mich nur hier
sitzen.
Aber sie ging nicht.
--- Ich habe Angst sagte sie nach einer Pause.
--- Angst?
Sie nickte stumm.
Er raffte sich auf.
--- Nein, nein! Haben Sie keine Angst. Man darf
keine Angst haben.
Er faselte und betastete im Sprechen alle Gegenstände.
--- Es ist die zweite Seele, die Angst hat, und ich liebe
die Menschen, die eine zweite Seele haben.
Er fing an im Zimmer herumzugehen und sprach unaufhörlich.
Das Mädchen sah ihn mit steigendem Entsetzen an.
--- Ihre Schwester war vor einer halben Stunde hier,
rief sie in ihrer Angst.
Er horchte plötzlich auf.
--- Meine Schwester?
Das brachte ihn wieder zur Besinnung.
Er setzte sich hin, aber von Neuem versank er in ein
stumpfes Grübeln.
Plötzlich fuhr er wild auf.
--- Ist hier Niemand außer uns beiden?
--- Nein, nein, stammelte sie und wich zurück.
--- Aber hier --- hier... Sehen Sie nicht? Fühlen
Sie nichts?
Er sprang hoch wie von einem Krampf emporgeschnellt.
Seine Augen waren geschlossen.
Plötzlich riss er gewaltsam die Augen auf: er sah das
Mädchen totenblass sich an einem Stuhl halten.
Er empfand eine tiefe Scham, starrte sie lange an und
versuchte, freundlich zu lächeln.
--- Ja, ja, Sie haben Recht. Ich bin krank. Vielleicht sehr krank...
Er dachte lange nach.
--- Vielleicht wollen wir an meine Frau telegraphieren,
dass sie sofort kommen solle?...
Das Mädchen atmete glücklich auf.
--- Ja, ja, tun Sie das nur. Schreiben Sie nur das
Telegramm. Ich werde auf die Post laufen.
Sie lief umher und suchte nach Tinte.
--- So. Hier ist alles... schreiben Sie nur schnell.
Es ist bald zehn Uhr.
Da kam es ihm plötzlich vor, das nun alles vorüber
sei. Er fühlte sich mit einem Mal so klar und so stark.
Er war erstaunt über dies Wunder.
--- Nein, nein, es ist nicht nötig, wir wollen noch
bis morgen warten. Übrigens bin ich sehr müde. Ich
werde mich jetzt schlafen legen. Ich fühle, dass ich sofort einschlafe.
In der Tür blieb er stehen.
--- Wenn ich in der Nacht weggeben sollte, so ängstigen
Sie sich nicht. Ich werde nämlich, wenn es schlecht geht,
einen Arzt aufsuchen.
Er trat in sein Zimmer und setzte sich auf das Sofa.
Sein Gehirn war noch immer klar. Vielleicht war
das mit dem zweiten Gesicht nur eine Fieberkrise, und jetzt
würde er wieder gesund werden, dachte er.
Er grübelte.
Er erinnerte sich plötzlich an den Abend, an dem sein eignes Portrait einen so furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht hatte.
Er wurde glücklich.
Diese Erinnerung rettete ihn. Alles wurde ihm klar:
im Unbewussten war der Eindruck stecken geblieben, und
nun drang er nach Außen unter den Einfluss des Fieberparoxysmus.
Ein jauchzender Jubel weitete sein Gehirn. Er hatte
Lust, sich auf die Knie zu werfen und Gott zu danken
für die Erlösung.
Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab.
--- Gott! Was ist das? schrie er plötzlich auf.
Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt Papier und darauf
in flüchtiger, unsicherer Schrift ein Telegramm an seine
Frau:
„Komm sofort. Es geschieht etwas Furchtbares
mit mir!“
Es war seine eigne Schrift.
Eine dumpfe tierische Angst wirbelte in ihm auf: er
hatte die ganze Zeit nicht ein Wort geschrieben. Er
wusste genau, dass er eine Feder nicht angerührt hatte.
Er sank hin, aber immer wieder musste er auf das
entsetzliche Blatt hinstarren.
Kein Mensch außer ihm konnte es geschrieben haben.
Das war seine eigne Schrift.
Da fingen plötzlich die Buchstaben an, sich zu rühren,
sie lösten sich von dem Papier los, sie wurden lebendig,
schwirrten vor seinen Augen in irren Kreisen, alles um
ihn fing an, sich zu bewegen: er warf sich lang auf die
Erde und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine
Seele kauerte: jetzt wird es kommen. Er fühlte sich eingeengt, die Winde rückten näher, alles im Zimmer schob
sich ihm näher, umstellte ihn, versperrte ihm den Ausgang.
Er kroch eng in sich zusammen.
Vor seinen Augen stieg das furchtbare Portrait auf, es
wuchs über den Deckel hinaus, schon schielte es aus dem
Buch hervor, schon zwinkerte es boshaft mit den Augen.
Er sprang auf: vor ihm stand er selbst. Das Gesicht
war schmerzzerfurcht und die blutigen toten Augen starr
auf ihn gerichtet.
Er war wie eingewurzelt in den Boden.
Da sah er sein Gesicht zucken, alle Muskel liefen,
alle Fiebern klopften, die Zähne schlugen hörbar aneinander, die Augen schlossen sich krampfhaft und rissen sich
wieder weit auf: er stürzte aus dem Zimmer, als wäre
er von tausend Furien gepeitscht, lief über die Straßen
aufs Feld, weiter noch in den Wald hinaus: er stürzte
zusammen.
--- Was nun? Was nun? zuckte es unablässig in seinem
Gehirn, da verlor er die Herrschaft über sich, vergrub sich
in das feuchte Moos, tiefer noch, er verscharrte sich in
die weiche Erde: nun war er geborgen!
Er lachte in heißem Triumph, dann schrie er mit
allen Kräften auf: er hörte sich, er fühlte auch einen
heftigen Schmerz in der Lunge: er besann sich lange auf
sich selbst. Ja, er hatte geschrien! Er versuchte, die
Ursachen seines Lungenschmerzes herauszufinden...
Da rüttelte sich sein Gehirn auf. Er setzte sich hin
und dachte nach. Jetzt fühlte er nichts mehr: nur eine
weite, blöde Ruhe. Er suchte sich Rechenschaft über
seine Gedanken zu geben, er fühlte etwas mühsam in
seinem Gehirn arbeiten: er wusste nicht, worüber er
dachte, er suchte sich qualvoll darauf zu besinnen, aber
vergebens.
So saß er in einer stumpfen Resignation. Er wusste
nicht, wie lange er so saß.
Plötzlich fühlte er Fieberfrost, so heftig, dass er
seinen Körper nicht bemeistern konnte, er drohte auseinander zu fallen.
Er stand auf, fing an zu laufen und schlug den
Körper mit den Armen, so hatte er immer als Knabe
getan, wenn ihn gefroren hatte.
Dann lief er wieder im Kreise herum und schlug dabei
immer mit den Armen auf die Brust.
Mit einem Ruck blieb er stehen.
Das Kind! Mein Kind! schrie er auf. Mein Kind
wird mich retten, es wird mich retten --- mein Kind, mein
Kind, mein Blut!
Er horchte: eine Öde, taube Stille.
Wo war er! wo war er nur?
Angst packte ihn.
Er lief auf das freie Feld hinaus.
Ein blutiger Schein am Himmel! Der Himmel brennt,
zuckte es ihm durch den Kopf. Götterdämmerung! Jetzt
wird der Menschensohn heruntersteigen, um das Gericht
zu halten.
Er stand und starrte unablässig nach dem Feuerschein
am Himmel.
Eine Erinnerung mühte sich qualvoll aus der Nacht
seiner Seele.
Er atmete glücklich auf: dort lag die Stadt. Und
dies da am Himmel --- das ist ja der Schein des elektrischen Lichtes.
--- Mein Kind, mein Weib, meine Erlösung! fuhr es
ihm wieder durch das Gehirn.
Er schnellte auf. Eine unerhörte Energie ergoss sich
über seinen Körper. Er schritt mit weiten, triumphierenden
Schritten der Stadt zu.
Oh, er kannte seine Erlösung, er kannte die Sonne,
die in seinen Wahnsinn mit reinigender Macht hinabtauchte.
Plötzlich packte ihn ein furchtbares Grauen: Gott!
Allmächtiger Gott, wenn sie nicht da ist?
Er fing an zu laufen, er vergaß seinen Körper. Er
selbst war nur ein großes, klopfendes --- Herz, er fühlte es
den Boden berühren und in wilden Sprüngen aufschnellen;
er kam in die Stadt.
Da schlich er langsam wie ein Dieb: er fühlte, dass
sein Ende komme, wenn sie nicht da sei.
Schließlich kroch er fast. Er wagte nicht an das
Denkmal heranzukommen: er sah es in dumpfer Stille aufragen, kalt, grausam wie sein Schicksal, er sah es sich in
einen großen Dunstkreis auflösen, der zu schwirren und
zu kreisen anfing, er fühlte den Boden sich um ihn drehen,
heftiger, schneller noch, er taumelte... da plötzlich:
aus den kreisenden Dunstringen quollen ihm zwei Augen.
Eine unermessliche Freude zerriss ihm mit flackerndem
Licht das Gehirn: er klammerte sich um ihren Arm, er
presste sie an sich, zerrte an ihr, streichelte, liebkoste sie
und lachte in irrer Seligkeit.
Nun war alles Furchtbare versunken und vergessen:
er hielt sie fest, er wagte nicht ihren Arm loszulassen.
--- Ich habe gestern auf Dich gewartet die ganze
Nacht, sagte sie leise.
Er zitterte und konnte kaum gehen: die Freude hatte
ihn gelähmt.
--- Jetzt bin ich erlöst Durch Dich --- durch Dich!
Er kicherte. Ich hätte heute sterben müssen, aber jetzt
bin ich erlöst. Du hast mich wiedergeboren, sagte er
grübelnd.
Sie sprach etwas.
--- Ein Vampir? hörte er heraus.
Er blieb erschreckt stehen.
--- Aber weißt Du nicht, dass wir nur durch einander
wiedergeboren werden? sagte sie geheimnisvoll.
--- Du --- Du... auch? stammelte er.
Sie antwortete nicht.
--- Bist Du hier? Hier? fragte er entsetzt. Er betastete
sie mit der Hand.
--- Bist Du da? fragte er wieder.
Er fing an zu stottern und zu zittern.
--- Ja, ich bin hier. Ich fasse jetzt Deine Hand.
Fühlst Du sie? Oh, wie Deine Hand brennt!
Er beruhigte sich.
--- Bist Du Agaj? fragte er nach einer Weile.
--- Ist das Dein Vampir?
Er nickte stumm.
--- Du bist nicht Agaj? fragte er wieder nach einer
langen Pause.
--- Nein!
Endlich kamen sie an.
Diesmal kam es ihm vor, als ob sie durch eine endlose
Flucht von Korridoren gingen, durch eine trostlose, verlassene Öde von Zimmern. Er hörte das leise Echo seiner
Schritte, wie ein rhythmisches, taubes Herzklopfen.
--- Ich habe nicht Angst! sagte er plötzlich.
Eine lange Zeit verging.
--- Hier! sagte sie endlich.
Er atmete auf.
--- Oh! Ich bin so fürchterlich müde! Er konnte
nicht unterscheiden, war es seine, war es ihre Stimme?
Er fing an zu zittern.
--- Ich bin bei Dir! Sie hielt seine Hand fest.
Nie hatte er eine so dunkle Stimme gehört. Das war
Agaj’s sammetdunkles Fleisch.
Sein Herz krampfte sich zusammen.
--- Sprich, sprich zu mir! er presste ihre Hand.
--- Du bist so krank. Du bist so krank, wiederholte
sie leise und presste ihre Wange an seine.
So saßen sie lange, lange auf dem Rand des Bettes.
Er wurde ruhig und weich wie ein Kind.
--- Wie gut Du bist! Wie unendlich gut! flüsterte er
auf ihre Lippen.
--- Jetzt leg Dich hin. Ich werde bei Dir schlafen.
Ich werde Dich halten. Sieh', sieh', Du bist jetzt so ruhig,
Dein Fieber ist weg.
Sie entkleidete sich und legte sich neben ihn.
--- Ich werde Dich in meine Haare einwickeln, flüsterte sie und machte ihr Haar auf... Mein Haar ist so
lang, es reicht mir über die Knie...
--- Dein Haar ist weich wie Seide! Oh, viel weicher
noch.
--- Ist Dein Haar schwarz? fragte er nach einer Pause.
--- Nein!
--- Sind Deine Augen schwarz?
--- Nein!
--- Sie schwiegen lange.
--- Ich werde Dich auf Deine Brust küssen, sagte sie
plötzlich. Deine Brust glüht, und meine Lippen sind
so kühl.
Sie küsste ihn.
--- Noch, noch! bat er flehend.
Sie küsste ihn über die ganze Brust, dann verschränkte
sie ihre Hände um ihn, das Haar ergoss sich in seidener
Flut über seinen Körper, sie legte ihren Kopf an seine
Brust.
--- Du wirst nicht von mir gehen? fragte sie ängstlich.
--- Nein, nein... oh', jetzt ist alles vorüber.
Nun war es wohl Mittagszeit. Er fühlte, dass er jetzt
endlich werde etwas essen können. Das machte ihn
glücklich. Nun war er auch Agaj los.
Er lächelte. Er lächelte jetzt immer still und geheimnisvoll.
Es klingelte.
Er schrak empor und begann zu zittern.
Das war sie! Ja, sie! Er fühlte sie.
Agaj trat ein. Ihr Blick fraß sich ihm ins Mark.
Sie setzte sich ihm gegenüber und sagte lange kein
Wort.
Plötzlich warf sie den Kopf auf und sagte höhnisch:
--- Wo hast Du Dich denn gestern vor mir versteckt?
--- Ich habe mich gar nicht versteckt, sagte er ruhig.
Ich wollte Dich einfach nicht mehr sehen.
Er erschauerte. Aus der Hölle der abgründigen
Augen dieses Weibes schoss ein kranker Hass hervor.
--- Du warst die ganze Zeit bei dem Mädchen! Er
glaubte ein Knirschen zu hören... Du warst bei ihr die
ganze Nacht und gestern... sie brach plötzlich ab.
--- Ja, ich war bei ihr. Er lachte boshaft. Berührt
Dich das eigentlich? Ha, ha, Du bist ja eifersüchtig.
--- Ich erlaube Dir nicht, ich will nicht, dass Du ein
fremdes Weib berührst, ich will es nicht, verstehst Du,
ich will es nicht!
Sie schrie es mit kurzen, gedämpften Schreien.
Er ließ den Kopf sinken und stützte ihn mit beiden
Händen.
--- Meine Seele ist scheu und schamhaft, sagte er
langsam und sehr leise. Du hast sie scheu gemacht. Da
warst roh... sieh, ich bin einmal auf der Straße gegangen, und da fühlt' ich mich nur als ein großes klopfendes
Herz. Das ist ein Symbol für mein ganzes Wesen. Ich
bin auch in Wirklichkeit nur ein großes klopfendes Herz.
Und dieses Herz hat eine entsetzliche Scham. Die Scham
ist das kalkige Gehäuse, in das sich ein solches Herz für
immer wie eine Schnecke verkriechen kann. Die Scham
macht kalt und scheu und hat Ekel vor den Menschen.
Jetzt fühl' ich kein Herz mehr, es ist verborgen, es schrumpft
zusammen, es verkroch sich in dem Kalkgehäuse...
Er sah zu ihr auf. Er glaubte in ihren Augen große
Tränen zu bemerken. Er war nicht sicher.
Wieder ließ er den Kopf sinken.
--- Sieh' jetzt zum Beispiel. Ich glaube, ich habe
Tränen in Deinen Augen gesehen, aber selbst meine Scham
ist scheu, sie glaubt nicht an Deine Tränen.
Da sank sie ihm plötzlich zu Füßen. Sie fasste seine
Hände und küsste sie in einer Tollwut von Leidenschaft.
Sie wühlte ihn auf mit ihrer heißen (Her, mit den
bettelnden Küssen, seine Leidenschaft kroch wieder hervor,
drängte sich wütend in jeden seiner Nerven.
Aber er beherrschte sich mit einer unnatürlichen Macht
und entzog ihr leise seine Hände.
Da warf sie sich auf ihn, klammerte sich an ihn, biss
sich in ihm fest, erstickte ihn mit ihrer kranken Raserei.
Es schwindelte ihn. Kopfüber stürzte er sich in diese
Hölle von Glück und Grauen.
--- Du --- Du liebst mich? stammelte er mühsam.
Sie hing an seinen Lippen. Sie sog an ihnen, sinnlos,
gierig, sie konnte sich nicht sättigen.
Da sprang er plötzlich auf, sie kochte vor Wut.
--- Du bist ja kalt, kalt!... Man muss Dich erobern...
Ihre Stimme bebte und war heiser. Ha, ha... wir haben
die Rollen vertauscht. Du bist jetzt ein Weib. Ha, ha,
ha... es ist wohl pikant, sich einmal als Weib zu
fühlen?...
Sie biss ihn mit dem ätzenden Hohn. Er starrte sie
an, dann wurde seine Seele stumpf. Er sah sie nur dastehen mit dem breiten, gespreizten Hohn.
--- Und, und... sie stockte... Was hab' ich mit
Dir zu tun? Geh' doch zu Deinem Mädchen, schrie sie
rasend auf.
Er bemerkte plötzlich, dass sie ein graues Kleid anhatte.
--- Warum hast Du nicht Dein schwarzes seidenes
Kleid an?
Sie sah ihn erstaunt an. War er wirklich krank?
Spielte er Komödie?
--- Das reizt Dich zu sehr auf, sagte sie endlich frech.
Du darfst Dich nicht aufregen. Deine Nerven sind zu
schwach für den sexuellen Erethismus, in dem Du ewig
lebst. Das reibt Dich auf.
Er sagte kein Wort.
Sie schwiegen lange.
Plötzlich stand sie auf und trat dicht an ihn heran.
--- Du kommst heute um zehn Uhr abends zu mir,
sagte sie scharf. Die Mutter ist verreist.
--- Ich komme nicht! fuhr er rasend auf.
--- Du kommst! wiederholte sie lächelnd.
Eine Tollwut kam über ihn.
--- Ich schwöre Dir, dass ich nicht komme, schrie er
heiser auf. Ich schwöre! er stampfte mit den Füßen.
--- Du kommst! sagte sie sehr ernst.
Die Wut zersprengte ihm sein Gehirn. Er hatte
eine tierische Lust, dies Weib zu morden. Es schrie
etwas in ihm dies Wort: Morden! Die Sinne vergingen
ihm. Ein Schwindelgefühl wirbelte wie ein feuriges Feuerscheit in seiner Seele. Er ballte die Fäuste und ging
auf sie zu.
--- Du wirst heute um zehn Uhr zu mir kommen, sagte
sie leise und ging aus dem Zimmer.
--- Ich werde nicht! brüllte er auf und warf sich auf
den Boden. Die Seele war ihm aufgerissen und blutete
aus tausend Wunden. Er wälzte sich auf dem Boden
und vergrub in wütender Ohnmacht seine Hände in den
Teppich.
Mit einem Mal entdeckte er ihn wieder, ihn --- sich
selbst.
Sein Blut stockte, er fühlte ein Stechen und Prickeln
in den Haarwurzeln, er war gebadet in Angstschweiß.
Er kroch wie ein Tier auf Händen und Füßen in
eine Ecke und starrte unverwandt hin: dies grässliche verzerrte Gesicht! Sein eignes Gesicht.
Er schloss die Augen und drückte sich krampfhaft an
die Wand.
Jetzt wurde er es nicht mehr los werden. Er
musste sich daran gewöhnen.
Er fing an, lange und leise vor sich hin zu stammeln.
Er wurde plötzlich neugierig auf sein Gesicht, er machte
die Augen auf: es war verschwunden.
Aber er fühlte es um sich. Es war da. Es füllte
das ganze Zimmer. Er war wie eingehüllt in sich selbst.
Eine unendliche Verzweiflung senkte sich ihm langsam
fressend und zerstörend in die feinste Pore seines Organismus.
Da schnellte er auf und fing an wild zu lachen. Sein
Lachen kreilte ihm wie ein tierisches Wiehern in den
Ohren.
--- Gut, gut, ich habe nichts dagegen, durchaus nichts
dagegen. Jetzt werd' ich nie mehr einsam sein. Immer
Gesellschaft, immer Gesellschaft! In meiner eigenen Gesellschaft! He, he... kann ich eine bessere bekommen?
Mit einem Ruck wurde sein Gehirn gelähmt. Sein
Bewusstsein schwand.
Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer.
Er sprang auf in wilder Hast. Es war schon halb
zehn. Ohne eine Sekunde zu überlegen, lief er zu Agaj.
Vor dem Hause blieb er stehen und lächelte. Er
sprach sehr freundlich mit sich selbst und ging hinauf.
Sie stand zitternd vor der Tür.
Er sah alles mit einer übernatürlichen Deutlichkeit.
Hektische Flecke glühten auf ihren Wangen: sie waren
eingefallen. Sie atmete unruhig, sie rang nach Atem.
Sie stand vor ihm in einem schwarzen seidenen Ballkleide,
auf den nackten Armen hatte sie lange rote Handschuhe,
die über die Ellenbeuge reichten.
--- Sieh', sieh' mich an. Ich habe mich für Dich
geschmückt. Du liebst mich so, sag' es, sag'!
Sein Gehirn kam in einem Nu ins Gleichgewicht. Er
fraß an diesem schlanken Leib.
--- Wie schlank Du bist, murmelte er leise. Wie ein
Panther... wie ein glänzendes, geschmeidiges Tier...
Und wie Du Dich bewegst!...
--- Küss mich hier --- hier! sie zeigte auf den nackten
Arm. Du hast seit zehn Jahren meine Arme nicht nackt
gesehen.
Sie lachte hysterisch.
--- Ich gebe Dir heute das Abschiedsfest. Ich reise
heute Nacht weg, weit weg aufs Meer.
--- Aufs Meer? wiederholte er dumpf. Es kam ihm
so selbstverständlich vor, dass sie aufs Meer wollte.
--- Komm, komm, setz Dich! Hier ist viel, viel Wein!
Wir werden trinken heute...
Sie lachte lange, dann beugte sie sich zu ihm, legte
den Kopf auf seine Brust und flüsterte leise:
--- Ich gebe auch mir das Abschiedsfest. Ich komme
nie wieder zurück... Gib, gib mir Deine schmalen
Knabenhände, Deine teuren, goldnen Hände... Oh, wie
ich sie liebe! Sieh' ich bin Deine Agaj, --- die Agaj, die
Dir wie ein Hund folgte, die sich wie eine Katze an Deinem
nackten Leibe rieb... Ich --- ich fühle Dich so deutlich
hier, hier, an meinem ganzen Körper fühl’ ich Dich...
Und meine Seele ist so stolz... Nie sah ich einen Mann
außer Dir. Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Es kamen
so viele her, aber ich wusste nicht, dass sie Männer sind
--- das waren Hunde, Gegenstände, geschlechtslose Neutra.
Nur Du --- Du immer vor meinen Augen, immer um meinen
Leib... Und sieh, meine ganze, unbefleckte Seele, sie
gehört Dir, immer hat sie Dir gehört... Nicht eine
Sekunde schlich sich dahinein der Gedanke an einen Anderen... Bist Du nicht stolz auf eine solche Seele? Bist
Du nicht stolz auf einen solchen Besitz? Ich bin an Dir
emporgewachsen --- in der schwülen Treibhaushitze Deines
Leibes, Deiner Seele, Deines Pulsschlags bin ich groß
geworden... Ich atmete Dich, ich ging wie eingewickelt in Dich... Du, Du... mein Blut, mein Mann Du!
Sie wühlte sich mit ihrem Kopf in seine Brust, dann
lachte sie still auf.
--- Aber trink, trink doch!... Was meinst Du, wenn
wir uns heute ganz und gar betränken? Sie kicherte vergnügt, wie ein Kind. Erinnerst Du Dich, wie wir einmal
bei unserem Onkel waren, und uns in seinem Weinkeller
einschließen ließen? Gott war das furchtbar! Wie?
Sie tranken sich zu und leerten die Gläser, dann
nahmen sie sich an den Händen.
--- Agaj, Agaj, --- ich kenne Dich nicht wieder. Du
bist, wie Du früher warst...
Sie starrte wie abwesend vor sich hin.
--- Du, du... sagte sie leise. Jetzt sind wir wieder
eingeschlossen in einem dumpfen Keller... Huh, wie
grausig!
Sie kicherten beide.
--- Und Du --- Du, mein Liebling. .. Huh, huh, die
Nacht, die Nacht! Hörst Du die Eulen? Hörst Du die
Fledermäuse gegen die Fenster schlagen? Und die grässlichen Kröten, die im Keller herumkriechen...
--- Hu, hu, kicherte er irrsinnig.
--- Sind wir vielleicht beide wahnsinnig? fragte sie
plötzlich ängstlich... Aber das ist ja jetzt gleichgültig...
Du, Du, küss mich hier... sie knöpfte hastig ihre Taille
auf... Das hast Du einmal vor zehn Jahren getan.
Das gießt sich wie flüssiges Feuer über den ganzen Körper.
Die Schauer kriechen wie lange, kalte Schlangen über den
Leib...
Sie verstummte und zitterte heftig. Er küsste sie mit
kranker Leidenschaft auf ihre Brust.
--- Noch mehr! Sie war ganz von Sinnen.
Er zerriss ihr Hemd und sog an ihrer Brust.
Sie zuckten. Eine zerstörende Wollustextase riss
ihnen die Nerven entzwei.
Sie schrie plötzlich leise auf.
--- Lass', lass', keuchte sie heiser. Mein Kopf
birst...
Sie warf sich von ihm weg, aber im nächsten Moment
setzte sie sich wieder dicht an ihn heran.
Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihn
fest an ihre Brust und flüsterte ihm leise ins Ohr:
--- Wenn wir jetzt stürben...
Aber im selben Nu rückte sie wieder von ihm weg
und lachte.
--- Oh Du! Du! Warum sagst Du mir jetzt nicht,
dass ich sentimental bin? Du hattest jetzt eine so prachtvolle Gelegenheit, Dich an mir zu rächen. Oh ja, Du verschmähst es --- Deine Seele ist groß und schön. Ich liebe
Deine Seele, ich liebe die tiefe Schwermut Deiner Seele,
ich liebe die Tiefe und den Abgrund in Dir. Alles wächst
zu einem endlosen Abgrund in Dir, alles in Dir wird so
furchtbar tief und schmerzhaft. Du bist mir so heilig mit
Deinen Visionen. Sag', sag', hast Du oft Visionen? Du,
Du bist der Einzige, der Qual und Schmerz in sich hat!
Und Du wehrst Dich nicht dagegen, Du wehrst Dich nicht
gegen den Schmerz, Du liebst ihn auch, wie ich... Oh,
lass', lass' mich alles sagen. Ich habe so gedürstet, ich
habe so gelechzt, Dir dies alles zu sagen... Ich liebe
Dich, weil es Dich ekelt vor Glück... Ich liebe Dich,
weil Du die Vernunft hassest und Dich tausendmal lieber
in den Abgrund stürzest...
Sie hing sich ihm um den Hals und rieb langsam ihr
Gesicht an dem seinen.
--- Und Du liebst mich jetzt. Ich fühle wie grenzenlos Du mich liebst. Deine Seele klopft mir entgegen, Dein
Blut fließt in meine Adern über, und Dein Geist strömt in
mich über, Dein Geist mit der ganzen Hölle von Schmerz,
mit der abgründigen Tiefe von Qual. Hörst Du mich
sprechen? Hörst Du Dich in mir sprechen? Du hast mich
sprechen gelehrt, Du hast Deine Worte in meine Seele
gepflanzt...
Sie wiegte sich leise an seinem Körper.
--- Und ich hasse die Vernunft. Ich habe keine Vernunft. Ich habe Ekel vor der niedrigen bürgerlichen Vernunft, die den Schmerz wie die Pest fürchtet... Kleine, besorgte Bürgerfrauen, kleine Bürgerfräulein haben Vernunft... Oh, wie sie vernünftig sind!...
Sie kicherte böse.
--- Nicht wahr? Kleine Bürgerfräulein, die in kleiner,
enger, vernünftiger Atmosphäre aufgewachsen sind, die
müssen wohl vernünftig sein... Ha, ha, ha... Aber
ich bin das Kind Deines Geistes...
Sie waren beide wie verzückt. Sie kamen in einen
Zustand von einer visionären, somnambulen Extase, ihre
Seelen wogten in einander über.
Sie schwiegen, eng aneinander gepresst.
--- Oh, ich hätte es nie gedacht, dass es so unendlich
gut ist in Deinen Armen...
Wieder Schweigen.
Plötzlich ruckte sie von ihm weg.
--- Du --- Du... warst Du wirklich bei dem Mädchen?
--- Wie?
--- Warst Du bei ihr?
Er raffte alle seine Kräfte zusammen...
--- Nein!
--- Du lügst, sagte sie traurig... aber ich bin schuld
daran... war ich roh zu Dir?
--- Nein, nein... Nein, Du warst es nicht... Du
bist mein, Agaj... Du... Du...
Er sank an ihr nieder und küsste ihre Füße.
Sie nahm ihn auf, hielt seinen Kopf in den Händen
und sagte wie irrsinnig:
--- Das ist das Ende vom Liede...
--- Das ist das Ende vom Liede, wiederholte er.
Lange Pause.
--- Aber nicht zusammen...
--- Wie?
Sie lächelte irre.
--- Nicht zusammen... Verstehst Du mich nicht?
Er dachte nach.
--- Warum nicht?
--- Wir würden einander stören.
--- Ja.
Lange Pause.
Sie fuhr auf.
--- Nein! wir wollen nicht traurig sein! Trink, trink!
Sie tranken hastig.
Und wieder saßen sie lange, dicht aneinander gekauert.
--- Hör' Agaj, gibt es keinen Ausweg?
--- Nein! Jetzt nicht mehr.
--- Und... und, wenn wir beide wegfahren und, ---
wenn alles wie ein Alp abgeschüttelt ist?...
--- Ich kann nicht Dein sein!
--- Warum nicht?
--- Ich weiß es nicht... Nein, es geht nicht...
Sprich nicht darüber, es ist nutzlos, sagte sie müde.
--- Ist es Vernunft?
--- Nein, nein! Ich habe Ekel vor der Vernunft. Es
ist etwas, was ich nicht kenne. Ich sehne mich bis zum
Wahnsinn nach Dir... Du bist der größte Mensch, den
ich kenne, Du bist mein größter Künstler, und ich
würde mit Freude Deine ganze herrliche Menschlichkeit,
Deine ganze gewaltige Kunst für ein Stück Deiner nackten
Haut geben... Sieh, sieh meine Arme, sie sind so
schmal, aber sie haben Muskeln von Stahl... Wie oft
hab ich Dich nicht mit diesen Armen in meinen Nächten
umfasst und an mich gepresst!... Sieh meinen schmalen
Körper, wie oft hat er sich nicht über den Deinen gewunden!... und, und... sie stotterte verwirrt... im
letzten Momente trennt uns etwas, reißt uns auseinander...
Das ist wohl dasselbe Blut... Fühlst Du es nicht?
--- Ja, jetzt fühl’ ich es.
Sie raffte sich plötzlich zusammen.
--- Ja, Du, Du... Lach' doch!
Er lachte.
--- Sind wir verrückt? fragte sie.
--- Ja.
Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Ihre Gesichter
verzerrten sich schmerzhaft.
--- Geh, geh, flehte sie schluchzend. Der Wahnsinn
kommt, der Wahnsinn kommt... Geh, geh!
--- Ich bleib' bei Dir! sagte er hart.
Sie starrte ihn in entsetzlicher Angst an.
--- Dein Wille schwillt... sie kam in eine furchtbare Erregung. Dein Wille schwillt so grässlich an. Jetzt
bekommst Du Macht über mich... Du bist so grässlich
stark... Geh, geh... mein Kopf kracht und meine Brüste glühen... Feuer in meinem ganzen Körper.
Sie sank an ihm nieder und umklammerte seine Beine.
Seine Seele brach plötzlich in einer stumpfen Verzweiflung. Das Empfinden hatte sich von seinem Willen
losgelöst, er wurde machtlos. Eine dumpfe öde Leere
gähnte in seinem Gehirn.
Sie setzte sich auf seinen Schoß, lehnte ihren Kopf
an seine Brust und weinte.
Dann nahm sie seinen Kopf, küsste ihn auf den Mund,
auf die Augen und sah ihn fortwährend an mit einem Blick,
in dem die Verzweiflung in ein brütendes Jenseits vom
Schmerze zerbrochen war.
Jetzt geh, geh!
Er erhob sich mechanisch. Seine Seele war taub.
Sie führte ihn ans Fenster.
--- Sieh das Meer! Wie gut wäre es, mit Dir da
unten zu liegen --- in Deinen Armen, Deinen Armen...
aber ich liebe Deine Frau. Sie würde den Schmerz nicht
überleben... nein, nein! es müsste furchtbar sein, mit
diesem Schmerz an Dich zu denken. Ich muss allein.
--- Ja, sagte er nachdenklich.
Sie führte ihn hinunter. Sie traten in den Garten.
Sie blieben stehen.
Plötzlich stürzte sie sich auf ihn, sog sich tief in seinen
Hals, biss sich mit den Zähnen fest und riss ihm die
Haut auf.
Er stöhnte leise.
Er hörte, dass die Tür zugeworfen wurde, er fühlte
einen heftiges Schmerz, er griff mit der Hand nach dem
Hals: seine Hand wurde blutig.
Er lächelte.
Sein Gehirn war leer.
Er ging mit weiten, festen Schritten.
--- Sie wartet auf mich am Denkmal, schoss es ihm
durchs Gehirn.
Er machte eine weite abwehrende Handbewegung und
lächelte wieder.
Über seine Seele ergoss sich ein stiller, endlos weiter
Triumph.
Als er nach Hause kam, machte er mechanisch das
Fenster auf, setzte sich auf das Fensterbrett und starrte in
die Tiefe.
Jemand ging mit einer Laterne über den Hof.
Das Licht, dies taube Irrlicht in der Tiefe interessierte
ihn sehr.
Der Andre war im Zimmer. Er sah ihn grinsen, er
sah das fürchterliche, verzerrte Gesicht. Aber er hatte
keine Angst mehr. Er zuckte verächtlich mit den Achseln.
Und wenn ich mich in tausend Ich’s spaltete, würd'
ich doch allein bleiben. Agaj ist ja nicht mehr.
Da ist das Meer --- und da unten dieser steinige, gepflasterte Abgrund.
Er wich unwillkürlich zurück und machte Licht an.
Ein Brief auf dem Tisch. Er riss ihn auf. Von
seiner Frau.
„Mein Gott, was ist mit Dir? Warum schreibst Du
nicht ein Wort? Ich sterbe hier vor Angst um Dich.“
Er lächelte und küsste dreimal den Brief. Dann setzte
er sich aufs Bett.
Er empfand wieder einen brennenden, stechenden
Schmerz. Er ging an die Waschtoilette und wusch sich
die Wunde aus. Sein Rock war über und über blutig.
Er nahm ihn ab. Das sah ekelhaft aus. Dann löschte
er das Licht und legte sich aufs Bett.
Plötzlich fühlte er wieder den Menschenknäuel sich
heranwälzen. Langsam, wie ein kauerndes Gebetmurmeln.
Es kam näher, es schwoll an, wie ein irres Stammeln,
dann ging es wie ein röchelnder Marterseufzer durch
die Luft.
Und jetzt wieherte es gell auf, ein höllisches Hohngelächter zerriss die Luft, schwoll an, ballte sich zusammen,
wirbelte sich in die Tiefe und schoss dann mächtig, jäh
empor in einem schreienden Würgegesang:
De profundis...
Es war wie eine tollgewordne Qual, die die mageren,
knochigen Hände aus den Gelenken emporwarf und nach
Erlösung schrie.
Und plötzlich, langsam hob sich ein Weib empor in
weitem, scharlachrotem Mantel, sie wuchs empor hoch
über das ganze Erdenall, auf dem schmerzverzerrten Gesichte ein ödes, versteinertes Lächeln.
Und da sah er den Knäuel sich lösen, einen Strom
von Menschen sah er sich rings um das Weib gießen,
Menschenpaare in ekelhafter Kopulation mit verrenkten
Gliedern, schmerzhaft in einander verflochten und verwachsen. Er hörte ein tierisches Gewieher, berstend in
geschlechtlicher Qual, er sah Gesichter verzückt in tollen
Wollustorgien, Leiber sah er, zerfressen von Gift, mit
eklen Runden bedeckt, und unten, ganz unten sah er sich
selbst mit blutiger, zerquetschter Stirn, mit geballter Faust,
zerrissen von einer Verzweiflungsagonie und schreiend, mit
berstender Lunge emporschreiend...
Und aus den lechzenden, gierigen Schreien, aus dem
Schmutz und Ekel der geschlechtlichen Orgie, aus all der
verreckenden Qual löste sich von Neuem der wahnsinnige
Schicksalsgesang von Menschen, die unwissend aufeinandergeworfen, an einander gekettet werden, Menschen die in
einander wachsen und sich nicht lösen können: ein wirbelnder Sturm von Verzweiflungsschreien:
De profundis...
Er sprang aus dem Bett.
Noch klangen die letzten Töne in seinen Ohren. Sein
Gehirn war wirr, vergebens versuchte er einen Gedanken
zu fassen.
So saß er lange regungslos.
Das erste Morgengrauen fraß mühselig an dem Dunkel
des Zimmers.
--- Aber, mein Gott, wo bleibt denn Agaj? fuhr es
ihm plötzlich durch den Kopf.
Er stand auf und blieb mitten im Zimmer stehen.
Ah, Agaj hat sich sicher im Garten versteckt, hinter
der alten Pappel... Sie versteckt sich immer hinter
dieser Pappel.
Er kicherte und schlich leise auf den Zehen ans
Fenster.
Nun muss ich ganz leise die Verandatür aufmachen...
He, he... Sie hat sich hinter dem Garten versteckt...
Sie hat sich auf das Meer versteckt... Sie ist selbst
das Meer... Aber ich werde sie schon finden...
Nur leise, leise... sonst entflieht sie mir...
Er kroch auf die Fensterbrüstung.
--- Ich werde sie schon finden... Nur ganz leise...
Oh... da... da ist sie...
Er stand im Fenster mit weit vorgestreckten Armen.
Agaj! schrie er lachend auf.
Er stürzte in die Tiefe.