Nietzsche, Friedrich
Richard Wagner in Bayreuth
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Ritter-Jasińska, Antje
Choromańska, Paulina
Fundacja Nowoczesna Polska
Modernizm
Epika
Esej
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Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen, wyd. E.W. Fritzsch, Leipzig 1876.
Domena publiczna - Freidrich Nietzsche zm. 1900
1971
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2014-12-15
ger
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ISBN-978-83-288-0574-3
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ISBN-978-83-288-1568-1
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ISBN-978-83-288-3570-2
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ISBN-978-83-288-4656-2
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Friedrich Nietzsche
Richard Wagner in Bayreuth
Groß- und Kleinschreibung:/
Das -> das/
Jemand -> jemand/
Etwas -> etwas
th -> t:/
thut -> tut/
Theil -> Teil/
Räthsel -> Rätsel/
nöthig -> nötig
c -> k:/
Intellect -> Intellekt/
Cultur -> Kultur/
Objecte -> Objekte
ss -> ß:/
Maasse -> Maße/
Süssigkeit -> Süßigkeit/
liess -> ließ/
Fuss -> Fuß
ss -> s:/
Geheimniss -> Geheimnis/
Ereigniss -> Ereignis/
Erkenntniss -> Erkenntnis
1
Damit ein Ereignis Größe habe, muss zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen und der große Sinn derer, die es erleben. An
sich hat kein Ereignis Größe, und wenn schon ganze
Sternbilder verschwinden, Völker zugrunde gehen,
ausgedehnte Staaten gegründet und Kriege mit ungeheuren Kräften und Verlusten geführt werden: über
vieles der Art bläst der Hauch der Geschichte hinweg,
als handele es sich um Flocken. Es kommt aber auch
vor, dass ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der
an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein
kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die
Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So
überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben,
seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entsprechen
von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man
immer, wenn man handelt, im Kleinsten wie im Größten;
und der, welcher geben will, muss zusehen, dass er
die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines
selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz,
stumpf und unfruchtbar ist; denn in dem Augenblicke,
wo er sie tat, muss ihm jedenfalls die tiefe Einsicht
gefehlt haben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er
hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war
Herr über ihn geworden, während groß sein und den
Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.
Darüber also, ob das, was jetzt in Bayreuth vor
sich geht, im rechten Augenblick vor sich geht und
notwendig ist, sich Sorge zu machen und Bedenken
zu haben, überlassen wir billig wohl denen, welche
über Wagner’s Blick für das Notwendige selbst Bedenken haben. Uns Vertrauensvolleren muss es so
erscheinen, dass er ebenso an die Größe seiner Tat,
als an den großen Sinn derer, welche sie erleben
sollen, glaubt. Darauf sollen alle jene stolz sein,
welchen dieser Glaube gilt, jenen vielen oder wenigen
--- denn dass es nicht alle sind, dass jener Glaube
nicht der ganzen Zeit gilt, selbst nicht einmal dem
ganzen deutschen Volke in seiner gegenwärtigen Erscheinung, hat er uns selber gesagt, in jener Weiherede vom 22. Mai 1872, und es
gibt keinen unter uns, welcher gerade darin ihm in
tröstlicher Weise widersprechen dürfte. ,,Nur Sie,
sagte er damals, die Freunde meiner besonderen Kunst,
meines eigensten Wirkens und Schaffens, hatte ich, um
für meine Entwürfe mich an Teilnehmende zu wenden:
nur um Ihre Mithilfe für mein Werk konnte ich Sie
angehen, dieses Werk rein und unentstellt denjenigen
vorführen zu können, die meiner Kunst ihre ernstliche
Geneigtheit bezeigten, trotzdem sie ihnen nur noch
unrein und entstellt bisher vorgeführt werden konnte."
In Bayreuth ist auch der Zuschauer anschauenswert, es ist kein Zweifel. Ein weiser betrachtender
Geist, der aus einem Jahrhundert ins andere ginge,
die merkwürdigen Kultur-Regungen zu vergleichen,
würde dort viel zu sehen haben; er würde fühlen
müssen, dass er hier plötzlich in ein warmes Gewässer
gerate, wie einer, der in einem See schwimmt und
der Strömung einer heißen Quelle nahe kommt: aus
anderen, tieferen Gründen muss diese emporkommen,
sagt er sich, das umgebende Wasser erklärt sie nicht
und ist jedenfalls selber flacheren Ursprungs. So
werden alle die, welche das Bayreuther Fest begehen,
als unzeitgemäße Menschen empfunden werden: sie
haben anderswo ihre Heimat als in der Zeit und
finden anderwärts sowohl ihre Erklärung als ihre
Rechtfertigung. Mir ist immer deutlicher geworden,
dass der „Gebildete“, sofern er ganz und völlig die
Frucht dieser Gegenwart ist, allem, was Wagner tut
und denkt, nur durch die Parodie beikommen kann
--- wie auch alles und jedes parodiert worden ist ---
und dass er sich auch das Bayreuther Ereignis nur
durch die sehr unmagische Laterne unsrer witzelnden
Zeitungsschreiber beleuchten lassen will. Und glücklich, wenn es bei der Parodie bleibt! Es entladet sich
in ihr ein Geist der Entfremdung und Feindseligkeit,
welcher noch ganz andere Mittel und Wege aufsuchen
könnte, auch gelegentlich aufgesucht hat. Diese ungewöhnliche Schärfe und Spannung der Gegensätze
würde jener Kultur-Beobachter ebenfalls ins Auge
fassen. Dass ein Einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hinstellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die
Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art
von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam
und fordern Langsamkeit --- und da sehen sie nun einen
sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht und
sind ihm böse. Von einem solchen Unternehmen, wie
dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Übergänge, keine Vermittelungen; den langen Weg zum
Ziele und das Ziel selber wusste keiner außer Wagner.
Es ist die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst:
wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst,
sondern die Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Künste sind dadurch, als einsiedlerisch --- verkümmerte oder als Luxus --- Künste, halb und
halb entwertet; auch die unsicheren, übel zusammenhängenden Erinnerungen an eine wahre Kunst, die
wir Neueren von den Griechen her hatten, dürfen nun
ruhen, soweit sie selbst jetzt nicht in einem neuen
Verständnisse zu leuchten vermögen. Es ist für vieles
jetzt an der Zeit, abzusterben; diese neue Kunst ist
eine Seherin, welche nicht nur für Künste den Untergang herannahen sieht. Ihre mahnende Hand muss
unserer gesamten jetzigen Bildung von dem Augenblicke an sehr unheimlich vorkommen, wo das Gelächter
über ihre Parodien verstummt: mag sie immerhin noch
eine kurze Weile Zeit zu Lust und Lachen haben!
Dagegen werden wir, die Jünger der wiederauferstandenen Kunst, zum Ernste, zum tiefen heiligen
Ernste, Zeit und Willen haben! Das Reden und
Lärmen, welches die bisherige Bildung von der Kunst
gemacht hat --- wir müssen es jetzt als eine schamlose
Zudringlichkeit empfinden; zum Schweigen verpflichtet
uns alles, zum fünfjährigen pythagoreischen Schweigen.
Wer von uns hätte nicht an dem widerlichen Götzendienste der modernen Bildung Hände und Gemüt besudelt! Wer bedürfte nicht des reinigenden Wassers,
wer hörte nicht die Stimme, die ihn mahnt: Schweigen
und Reinsein! Schweigen und Reinsein! Nur als
denen, welche auf diese Stimme hören, wird uns auch
der große Blick zuteil, mit dem wir auf das Ereignis von Bayreuth hinzusehn haben: und nur in diesem
Blick liegt die große Zukunft jenes Ereignisses.
Als an jenem Maitage des Jahres 1872 der Grundstein auf der Anhöhe von Bayreuth gelegt worden
war, bei strömendem Regen und verfinstertem Himmel,
fuhr Wagner mit einigen von uns zur Stadt zurück,
er schwieg und sah dabei mit einem Blick lange in
sich hinein, der mit einem Worte nicht zu bezeichnen
wäre. Er begann an diesem Tage sein sechzigstes
Lebensjahr: alles Bisherige war die Vorbereitung auf
diesen Moment. Man weiß, dass Menschen im Augenblick einer außerordentlichen Gefahr oder überhaupt
in einer wichtigen Entscheidung ihres Lebens durch
ein unendlich beschleunigtes inneres Schauen alles
Erlebte zusammendrängen und mit seltenster Schärfe
das Nächste wie das Fernste wiedererkennen. Was
mag Alexander der Große in jenem Augenblicke gesehen haben, als er Asien und Europa aus einem
Mischkrug trinken ließ? Was aber Wagner an jenem
Tage innerlich schaute --- wie er wurde, was er ist,
was er sein wird --- das können wir, seine Nächsten,
bis zu einem Grade nachschauen: und erst von diesem
Wagnerschen Blick aus werden wir seine große Tat
selber verstehen können --- um mit diesem Verständnis ihre Fruchtbarkeit zu verbürgen.
2
Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am
besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der
gesammten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar
würde; vielmehr muss bei Menschen von hervorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem
auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten
Vermögens werden. Das Leben des epischen Dichters
wird etwas vom Epos an sich tragen --- wie dies,
beiläufig gesagt, mit Goethe der Fall ist, in welchem
die Deutschen sehr mit Unrecht vornehmlich den
Lyriker zu sehen gewöhnt sind --- das Leben des Dramatikers wird dramatisch verlaufen.
Das Dramatische im Werden Wagners ist gar
nicht zu verkennen, von dem Augenblicke an, wo die
in ihm herrschende Leidenschaft ihrer selber bewusst
wird und seine ganze Natur zusammenfasst: damit ist
dann das Tastende, Schweifende, das Wuchern der
Nebenschößlinge abgetan, und in den verschlungensten
Wegen und Wandelungen, in dem oft abenteuerlichen
Bogenwürfe seiner Pläne waltet eine einzige innere
Gesetzlichkeit, ein Wille, aus dem sie erklärbar sind,
so verwunderlich auch oft diese Erklärungen klingen
werden. Nun gab es aber einen vordramatischen Teil
im Leben Wagners, seine Kindheit und Jugend, und
über den kann man nicht hinweg kommen, ohne auf
Rätsel zu stoßen. Er selbst scheint noch gar nicht
angekündigt; und das, was man jetzt, zurückblickend,
vielleicht als Ankündigungen verstehen könnte, zeigt
sich doch zunächst als ein Beieinander von Eigenschaften, welche eher Bedenken, als Hoffnungen erregen
müssen: ein Geist der Unruhe, der Reizbarkeit, eine
nervöse Hast im Erfassen von hundert Dingen, ein
leidenschaftliches Behagen an beinahe krankhaften
hochgespannten Stimmungen, ein unvermitteltes Umschlagen aus Augenblicken seelenvollster Gemütsstille in das Gewaltsame und Lärmende. Ihn schränkte keine
strenge erb-- und familienhafte Kunstübung ein: die
Malerei, die Dichtkunst, die Schauspielerei, die Musik
kamen ihm so nahe als die gelehrtenhafte Erziehung
und Zukunft; wer oberflächlich hinblickte, mochte
meinen, er sei zum Dilettantisieren geboren. Die kleine
Welt, in deren Bann er aufwuchs, war nicht der Art,
dass man einem Künstler zu einer solchen Heimat
hätte Glück wünschen können. Die gefährliche Lust
an geistigem Anschmecken trat ihm nahe, ebenso der
mit dem Vielerlei-Wissen verbundene Dünkel, wie er
in Gelehrten-Städten zu Hause ist; die Empfindung
wurde leicht erregt, ungründlich befriedigt; so weit
das Auge des Knaben schweifte, sah er sich von
einem wunderlich altklugen, aber rührigen Wesen
umgeben, zu dem das bunte Theater in lächerlichem,
der seelenbezwingende Ton der Musik in unbegreiflichem Gegensätze stand. Nun fällt es dem vergleichenden Kenner überhaupt auf, wie selten gerade der
moderne Mensch, wenn er die Mitgift einer hohen Begabung bekommen hat, in seiner Jugend und Kindheit
die Eigenschaft der Naivität, der schlichten Eigen-- und Selbstheit hat, wie wenig er sie haben kann; vielmehr werden die Seltenen, welche, wie Goethe und
Wagner, überhaupt zur Naivität kommen, diese jetzt
immer noch eher als Männer haben, als im Alter der
Kinder und Jünglinge. Den Künstler zumal, dem die
nachahmende Kraft in besonderem Maße angeboren
ist, wird die unkräftige Vielseitigkeit des modernen
Lebens wie eine heftige Kinder-Krankheit befallen
müssen; er wird als Knabe und Jüngling einem Alten
ähnlicher sehen als seinem eigentlichen Selbst. Das
wunderbar strenge Urbild des Jünglings, den Siegfried
im Ring des Nibelungen, konnte nur ein Mann erzeugen
und zwar ein Mann, der seine eigene Jugend erst spät
gefunden hat. Spät wie Wagners Jugend, kam sein
Mannesalter, so dass er wenigstens hierin der Gegensatz einer vorwegnehmenden Natur ist.
Sobald seine geistige und sittliche Mannbarkeit
eintritt, beginnt auch das Drama seines Lebens. Und
wie anders ist jetzt der Anblick! Seine Natur erscheint
in furchtbarer Weise vereinfacht, in zwei Triebe oder
Sphären auseinander gerissen. Zu unterst wühlt ein
heftiger Wille in jäher Strömung, der gleichsam auf
allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will
und nach Macht verlangt. Nur eine ganz reine und
freie Kraft konnte diesem Willen einen Weg ins Gute
und Hilfreiche weisen; mit einem engen Geiste verbunden, hätte ein solcher Wille bei seinem schrankenlosen tyrannischen Begehren zum Verhängnis werden
können; und jedenfalls musste bald ein Weg ins Freie
sich finden, und helle Luft und Sonnenschein hinzukommen. Ein mächtiges Streben, dem immer wieder
ein Einblick in seine Erfolglosigkeit gegeben wird,
macht böse; das Unzulängliche kann mitunter in den
Umständen, im Unabänderlichen des Schicksals liefen,
nicht im Mangel der Kraft: aber der, welcher vom
Streben nicht lassen kann, trotz diesem Unzulänglichen,
wird gleichsam unterschwürig und daher reizbar und
ungerecht. Vielleicht sucht er die Gründe für sein
Misslingen in den anderen, ja er kann in leidenschaftlichem Hasse alle Welt als schuldig behandeln; vielleicht auch geht er trotzig auf Neben-- und Schleichwegen oder übt Gewalt: so geschieht es wohl, dass
gute Naturen verwildern, auf dem Wege zum Besten.
Selbst unter denen, welche nur der eigenen sittlichen
Reinigung nachjagten, unter Einsiedlern und Mönchen,
finden sich solche verwilderte und über und über erkrankte, durch Misslingen ausgehöhlte und zerfressene
Menschen. Es war ein liebevoller, mit Güte und
Süßigkeit überschwenglich mild zuredender Geist, dem
die Gewalttat und die Selbstzerstörung verhasst ist
und der niemanden in Fesseln sehen will: dieser sprach
zu Wagner. Er ließ sich auf ihn nieder und umhüllte
ihn tröstlich mit seinen Flügeln, er zeigte ihm den
Weg. Wir tun einen Blick in die andere Sphäre
der Wagnerschen Natur: aber wie sollen wir sie beschreiben?
Die Gestalten, welche ein Künstler schafft, sind
nicht er selbst, aber die Reihenfolge der Gestalten, an
denen er ersichtlich mit innigster Liebe hängt, sagt
allerdings etwas über den Künstler selber aus. Nun
stelle man Rienzi, den fliegenden Holländer und Senta,
Tannhäuser und Elisabeth, Lohengrin und Elsa, Tristan
und Marke, Hans Sachs, Wotan und Brünnhilde sich
vor die Seele: es geht ein verbindender unterirdischer
Strom von sittlicher Veredelung und Vergrößerung
durch alle hindurch, der immer reiner und geläuterter
flutet --- und hier stehen wir, wenn auch mit schamhafter Zurückhaltung, vor einem innersten Werden in
Wagners eigener Seele. An welchem Künstler ist
etwas Ähnliches in ähnlicher Größe wahrzunehmen?
Schillers Gestalten, von den Räubern bis zu Wallenstein und Tell, durchlaufen eine solche Bahn der Veredelung und sprechen ebenfalls etwas über das Werden
ihres Schöpfers aus, aber der Maßstab ist bei Wagner
noch größer, der Weg länger. Alles nimmt an dieser
Läuterung Teil und drückt sie aus, der Mythus nicht
nur, sondern auch die Musik; im Ringe des Nibelungen
finde ich die sittlichste Musik, die ich kenne, zum
Beispiel dort, wo Brünnhilde von Siegfried erweckt
wird; hier reicht er hinauf bis zu einer Höhe und
Heiligkeit der Stimmung, dass wir an das Glühen der Eis-- und Schneegipfel in den Alpen denken müssen:
so rein, einsam, schwer zugänglich, trieblos, vom
Leuchten der Liebe umflossen, erhebt sich hier die
Natur; Wolken und Gewitter, ja selbst das Erhabene,
sind unter ihr. Von da aus auf den Tannhäuser und
Holländer zurückblickend, fühlen wir, wie der Mensch
Wagner wurde: wie er dunkel und unruhig begann,
wie er stürmisch Befriedigung suchte, Macht, berauschenden Genuss erstrebte, oft mit Ekel zurückfloh, wie
er die Last von sich werfen wollte, zu vergessen, zu
verneinen, zu entsagen begehrte --- der gesamte Strom
stürzte sich bald in dieses, bald in jenes Tal und
bohrte in die dunkelsten Schluchten: --- in der Nacht
dieses halb unterirdischen Wühlens erschien ein Stern
hoch über ihm, mit traurigem Glanze, er nannte ihn,
wie er ihn erkannte: Treue, selbstlose Treue!
Warum leuchtete sie ihm heller und reiner, als alles?
welches Geheimnis enthält das Wort Treue für sein
ganzes Wesen? Denn in jedem, was er dachte und
dichtete, hat er das Bild und Problem der Treue ausgeprägt, es ist in seinen Werken eine fast vollständige
Reihe aller möglichen Arten der Treue, darunter sind
die herrlichsten und selten geahnten: Treue von Bruder
zu Schwester, Freund zu Freund, Diener zum Herrn,
Elisabeth zu Tannhäuser, Senta zum Holländer, Elsa
zu Lohengrin, Isolde, Kurwenal und Marke zu Tristan,
Brünnhilde zu Wotans innerstem Wunsche --- um die
Reihe nur anzufangen. Es ist die eigenste Urerfahrung,
welche Wagner in sich selbst erlebt und wie ein religiöses Geheimnis verehrt: diese drückt er mit dem
Worte Treue aus, diese wird er nicht müde in hundert
Gestaltungen aus sich heraus zu stellen und in der
Fülle seiner Dankbarkeit mit dem Herrlichsten zu beschenken, was er hat und kann --- jene wundervolle
Erfahrung und Erkenntnis, dass die eine Sphäre seines
Wesens der anderen treu blieb, aus freier selbstlosester
Liebe Treue wahrte, die schöpferische schuldlose lichtere
Sphäre, der dunkelen, unbändigen und tyrannischen.
3
Im Verhalten der beiden tiefsten Kräfte zueinander,
in der Hingebung der einen an die andere lag die
große Notwendigkeit, durch welche er allein ganz
und er selbst bleiben konnte: zugleich das einzige,
was er nicht in der Gewalt hatte, was er beobachten
und hinnehmen musste, während er die Verführung zur
Untreue und ihre schrecklichen Gefahren für sich
immer aufs neue an sich herankommen sah. Hier
fließt eine überreiche Quelle der Leiden des Werdenden, die Ungewissheit. Jeder seiner Triebe strebte ins
Ungemessene, alle daseinsfreudigen Begabungen wollten
sich einzeln losreißen und für sich befriedigen; je
größer ihre Fülle, um so größer war der Tumult, um
so feindseliger ihre Kreuzung. Dazu reizte der Zufall
und das Leben, Macht, Glanz, feurigste Lust zu gewinnen, noch öfter quälte die unbarmherzige Not,
überhaupt leben zu müssen; überall waren Fesseln und
Fallgruben. Wie ist es möglich, da Treue zu halten,
ganz zu bleiben? --- Dieser Zweifel übermannte ihn oft
und sprach sich dann so aus, wie eben ein Künstler
zweifelt, in künstlerischen Gestalten: Elisabeth kann für
Tannhäuser eben nur leiden, beten und sterben, sie rettet
den Unsteten und Unmäßigen durch ihre Treue, aber
nicht für dieses Leben. Es geht gefährlich und verzweifelt zu, im Lebenswege jedes wahren Künstlers,
der in die modernen Zeiten geworfen ist. Auf viele
Arten kann er zu Ehren und Macht kommen, Ruhe
und Genügen bietet sich ihm mehrfach an, doch immer
nur in der Gestalt, wie der moderne Mensch sie kennt
und wie sie für den redlichen Künstler zum erstickenden Brodem werden müssen. In der Versuchung hiezu
und ebenso in der Abweisung dieser Versuchung liegen
seine Gefahren, in dem Ekel an den modernen Arten,
Lust und Ansehen zu erwerben, in der Wut, welche
sich gegen alles eigensüchtige Behagen nach Art der
jetzigen Menschen wendet. Man denke ihn sich in eine
Beamtung hinein --- so wie Wagner das Amt eines
Kapellmeisters an Stadt-- und Hoftheatern zu versehen
hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit
Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal
die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher
Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit
fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im Ganzen
immer misslingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten
will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten
könnte und er immer wieder zu den Zigeunern und
Ausgestoßenen unserer Kultur als einer der Ihrigen
zurückkehren muss. Aus einer Lage sich losreißend,
verhilft er sich selten zu einer besseren, mitunter gerät er in die tiefste Dürftigkeit. So wechselte Wagner
Städte, Gefährten, Länder, und man begreift kaum,
unter was für Anmutungen und Umgebungen er es
doch immer eine Zeit lang ausgehalten hat. Auf der
größeren Hälfte seines bisherigen Lebens liegt eine
schwere Luft; es scheint, als hoffte er nicht mehr ins
allgemeine, sondern nur noch von heute zu morgen,
und so verzweifelte er zwar nicht, ohne doch zu glauben.
Wie ein Wanderer durch die Nacht geht, mit schwerer
Bürde und auf das Tiefste ermüdet und doch übernächtig erregt, so mag es ihm oft zumute gewesen
sein; ein plötzlicher Tod erschien dann vor seinen
Blicken nicht als Schrecknis, sondern als verlockendes
liebreizendes Gespenst. Last, Weg und Nacht, alles
mit einem Male verschwunden! --- das tönte verführerisch. Hundertmal warf er sich von neuem wieder mit jener kurzatmigen Hoffnung ins Leben und
ließ alle Gespenster hinter sich. Aber in der Art,
wie er es tat, lag fast immer eine Maßlosigkeit, das
Anzeichen dafür, dass er nicht tief und fest an jene
Hoffnung glaubte, sondern sich nur an ihr berauschte.
Mit dem Gegensätze seines Begehrens und seines gewöhnlichen Halb-- oder Unvermögens, es zu befriedigen,
wurde er wie mit Stacheln gequält, durch das fortwährende Entbehren aufgereizt, verlor sich seine Vorstellung ins Ausschweifende, wenn einmal plötzlich der
Mangel nachließ. Das Leben ward immer verwickelter;
aber auch immer kühner, erfindungsreicher waren die
Mittel und Auswege, die er, der Dramatiker, entdeckte,
ob es schon lauter dramatische Notbehelfe waren,
vorgeschobene Motive, welche einen Augenblick
täuschen und nur für einen Augenblick erfunden sind.
Er ist blitzschnell mit ihnen bei der Hand, und ebenso
schnell sind sie verbraucht. Das Leben Wagners, ganz
aus der Nähe und ohne Liebe gesehen, hat, um an
einen Gedanken Schopenhauers zu erinnern, sehr viel
von der Komödie an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken. Wie das Gefühl hiervon, das Eingeständnis einer grotesken Würdelosigkeit ganzer
Lebensstrecken auf den Künstler wirken musste, der
mehr als irgendein anderer im Erhabenen und im
Über-Erhabenen allein frei atmen kann, --- das gibt
dem Denkenden zu denken.
Inmitten eines solchen Treibens, welches nur durch
die genaueste Schilderung den Grad von Mitleiden,
Schrecken und Verwunderung einflößen kann, welchen
es verdient, entfaltet sich eine Begabung des Lernens, wie sie selbst bei Deutschen, dem eigentlichen
Lern-Volke, ganz außergewöhnlich ist; und in dieser Begabung erwuchs wieder eine neue Gefahr, die sogar
größer war als die eines entwurzelt und unstet scheinenden, vom friedlosen Wahne kreuz und quer geführten Lebens. Wagner wurde aus einem versuchenden
Neuling ein allseitiger Meister der Musik und der
Bühne und in jeder der technischen Vorbedingungen
ein Erfinder und Mehrer. Niemand wird ihm den
Ruhm mehr streitig machen, das höchste Vorbild für
alle Kunst des großen Vortrags gegeben zu haben.
Aber er wurde noch viel mehr, und um dies und jenes
zu werden, war es ihm so wenig als irgend jemandem
erspart, sich lernend die höchste Kultur anzueignen.
Und wie er dies tat! Es ist eine Lust, dies zu
sehen; von allen Seiten wächst es an ihn heran, in ihn
hinein, und je größer und schwerer der Bau, um so
straffer spannt sich der Bogen des ordnenden und
beherrschenden Denkens. Und doch wurde es selten
einem so schwer gemacht, die Zugänge zu den Wissenschaften und Fertigkeiten zu finden, und vielfach musste
er solche Zugänge improvisieren. Der Erneuerer des
einfachen Dramas, der Entdecker der Stellung der
Künste in der wahren menschlichen Gesellschaft, der
dichtende Erklärer vergangener Lebensbetrachtungen,
der Philosoph, der Historiker, der Ästhetiker und
Kritiker Wagner, der Meister der Sprache, der Mytholog
und Mythopoet, der zum ersten Male einen Ring um
das herrliche uralte ungeheure Gebilde schloss und die
Runen seines Geistes darauf eingrub --- welche Fülle
des Wissens hatte er zusammenzubringen und zu umspannen, um das alles werden zu können! Und doch
erdrückte weder diese Summe seinen Willen zur Tat,
noch leitete das Einzelne und Anziehendste ihn abseits.
Um das Ungemeine eines solchen Verhaltens zu ermessen, nehme man zum Beispiel das große Gegenbild
Goethes, der, als Lernender und Wissender, wie ein
viel verzweigtes Stromnetz erscheint, welches aber seine
ganze Kraft nicht zu Meere trägt, sondern mindestens
ebensoviel auf seinen Wegen und Krümmungen verliert und verstreut, als es am Ausgange mit sich führt. Es
ist wahr, ein solches Wesen wie das Goethes hat und
macht mehr Behagen, es liegt etwas Mildes und Edel-Verschwenderisches um ihn herum, während Wagners
Lauf und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken kann. Mag aber sich fürchten, wer will:
wir anderen wollen dadurch um so mutiger werden,
dass wir einen Helden mit Augen sehen dürfen, welcher
auch in Betreff der modernen Bildung ,,das Fürchten
nicht gelernt hat".
Ebensowenig hat er gelernt, sich durch Historie
und Philosophie zur Ruhe zu bringen und gerade das
zauberhaft Sänftigende und der Tat Widerratende
ihrer Wirkungen für sich herauszunehmen. Weder
der schaffende, noch der kämpfende Künstler wurde
durch das Lernen und die Bildung von seiner Laufbahn
abgezogen. Sobald ihn seine bildende Kraft überkommt, wird ihm die Geschichte ein beweglicher Ton
in seiner Hand; dann steht er mit einem Mal anders
zu ihr als jeder Gelehrte, vielmehr ähnlich wie der
Grieche zu seinem Mythus stand, als zu einem Etwas,
an dem man formt und dichtet, zwar mit Liebe und
einer gewissen scheuen Andacht, aber doch mit dem
Hoheitsrecht des Schaffenden. Und gerade weil sie
für ihn noch biegsamer und wandelbarer als jeder
Traum ist, kann er in das einzelne Ereignis das
Typische ganzer Zeiten hineindichten und so eine
Wahrheit der Darstellung erreichen, wie sie der Historiker nie erreicht. Wo ist das ritterliche Mittelalter
so mit Fleisch und Geist in ein Gebilde übergegangen,
wie dies im Lohengrin geschehen ist? Und werden
nicht die Meistersinger noch zu den spätesten Zeiten
von dem deutschen Wesen erzählen, ja mehr als
erzählen, werden sie nicht vielmehr eine der reifsten
Früchte jenes Wesens sein, das immer reformieren und
nicht revolvieren will und das auf dem breiten Grunde
seines Behagens auch das edelste Unbehagen, das der
erneuernden Tat, nicht verlernt hat?
Und gerade zu dieser Art des Unbehagens wurde
Wagner immer wieder durch sein Befassen mit Historie
und Philosophie gedrängt: in ihnen fand er nicht nur
Waffen und Rüstung, sondern hier fühlte er vor allem
den begeisternden Anhauch, welcher von den Grabstätten
aller großen Kämpfer, aller großen Leidenden und
Denkenden her weht. Man kann sich durch nichts
mehr von der ganzen gegenwärtigen Zeit abheben, als
durch den Gebrauch, welchen man von der Geschichte
und Philosophie macht. Der ersteren scheint jetzt, so
wie sie gewöhnlich verstanden wird, die Aufgabe zugefallen zu sein, den modernen Menschen, der keuchend
und mühevoll zu seinen Zielen läuft, einmal aufatmen
zu lassen, so dass er sich für einen Augenblick gleichsam abgeschirrt fühlen kann. Was der einzelne
Montaigne in der Bewegtheit des Reformations-Geistes
bedeutet, ein In-sich-zur-Ruhe-kommen, ein friedliches
Für-sich-sein und Ausatmen --- und so empfand ihn
gewiss sein bester Leser, Shakespeare --- das ist jetzt
die Historie für den modernen Geist. Wenn die Deutschen seit einem Jahrhundert besonders den historischen Studien obgelegen haben, so zeigt dies, dass
sie in der Bewegung der neueren Welt die aufhaltende,
verzögernde, beruhigende Macht sind: was vielleicht
einige zu einem Lobe für sie wenden dürften. Im
Ganzen ist es aber ein gefährliches Anzeichen, wenn
das geistige Ringen eines Volkes vornehmlich der
Vergangenheit gilt, ein Merkmal von Erschlaffung,
von Rück-- und Hinfälligkeit: so dass sie nun jedem
um sich greifenden Fieber, zum Beispiel dem politischen,
in gefährlichster Weise ausgesetzt sind. Einen solchen
Zustand von Schwäche stellen, im Gegensätze zu allen
Reformations-- und Revolutions-Bewegungen, unsere
Gelehrten in der Geschichte des modernen Geistes dar,
sie haben sich nicht die stolzeste Aufgabe gestellt, aber
eine eigene Art friedfertigen Glückes gesichert. Jeder
freiere, männlichere Schritt führt freilich an ihnen vorüber, --- wenn auch keineswegs an der Geschichte
selbst! Diese hat noch ganz andere Kräfte in sich,
wie gerade solche Naturen wie Wagner ahnen: nur
muss sie erst einmal in einem viel ernsteren, strengeren
Sinne, aus einer mächtigen Seele heraus und überhaupt nicht mehr optimistisch, wie bisher immer, geschrieben werden, anders also, als die deutschen Gelehrten bis jetzt getan haben. Es liegt etwas Beschönigendes, Unterwürfiges und Zufriedengestelltes
auf allen ihren Arbeiten, und der Gang der Dinge ist
ihnen recht. Es ist schon viel, wenn es einer merken
lässt, dass er gerade nur zufrieden sei, weil es noch
schlimmer hätte kommen können: die meisten von ihnen
glauben unwillkürlich, dass es sehr gut sei, gerade so
wie es nun einmal gekommen ist. Wäre die Historie
nicht immer noch eine verkappte christliche Theodizee,
wäre sie mit mehr Gerechtigkeit und Inbrunst des
Mitgefühls geschrieben, so würde sie wahrhaftig am
wenigsten gerade als das Dienste leisten können, als
was sie jetzt dient: als Opiat gegen alles Umwälzende
und Erneuernde. Ähnlich steht es mit der Philosophie:
aus welcher ja die meisten nichts anderes lernen wollen,
als die Dinge ungefähr --- sehr ungefähr! --- verstehen, um sich dann in sie zu schicken. Und selbst von ihren
edelsten Vertretern wird ihre stillende und tröstende
Macht so stark hervorgehoben, dass die Ruhesüchtigen
und Trägen meinen müssen, sie suchten dasselbe, was
die Philosophie sucht. Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die
Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben:
um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der
rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung
der als veränderlich erkannten Seite der
Welt loszugehen. Das lehren die wahren Philosophen
auch selber durch die Tat, dadurch, dass sie an der
Verbesserung der sehr veränderlichen Einsicht der
Menschen arbeiteten und ihre Weisheit nicht für sich
behielten; das lehren auch die wahren Jünger wahrer
Philosophien, welche wie Wagner aus ihnen gerade
gesteigerte Entschiedenheit und Unbeugsamkeit für
ihr Wollen, aber keine Einschläferungssäfte zu saugen
verstehen. Wagner ist dort am meisten Philosoph, wo er
am tatkräftigsten und heldenhaftesten ist. Und gerade
als Philosoph ging er nicht nur durch das Feuer verschiedener philosophischer Systeme, ohne sich zu fürchten,
hindurch, sondern auch durch den Dampf des Wissens
und der Gelehrsamkeit, und hielt seinem höheren Selbst
Treue, welches von ihm Gesamttaten seines
vielstimmigen Wesens verlangte und ihn leiden
und lernen hieß, um jene Taten tun zu können.
4
Die Geschichte der Entwicklung der Kultur seit
den Griechen ist kurz genug, wenn man den eigentlichen wirklich zurückgelegten Weg in Betracht zieht
und das Stillestehen, Zurückgehen, Zaudern, Schleichen
gar nicht mitrechnet. Die Hellenisierung der Welt
und, diese zu ermöglichen, die Orientalisierung des
Hellenischen --- die Doppel-Aufgabe des großen Alexander --- ist immer noch das letzte große Ereignis; die alte Frage, ob eine fremde Kultur sich überhaupt übertragen lasse, immer noch das Problem, an
dem die Neueren sich abmühen. Das rhythmische Spiel
jener beiden Faktoren gegeneinander ist es, was namentlich den bisherigen Gang der Geschichte bestimmt hat. Da erscheint zum Beispiel das Christentum als ein Stück orientalischen Altertums, welches
von den Menschen mit ausschweifender Gründlichkeit
zu Ende gedacht und gehandelt wurde. Im Schwinden
seines Einflusses hat wieder die Macht des hellenischen
Kulturwesens zugenommen; wir erleben Erscheinungen,
welche so befremdend sind, dass sie unerklärbar in
der Luft schweben würden, wenn man sie nicht, über
einen mächtigen Zeitraum hinweg, an die griechischen
Analogien anknüpfen könnte. So gibt es zwischen
Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und
Empedokles, zwischen Äschylus und Richard Wagner
solche Nähen und Verwandtschaften, dass man fast
handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob
manche Dinge zusammengehören und die Zeit nur
eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht,
diese Zusammengehörigkeit zu sehen. Besonders bringt
auch die Geschichte der strengen Wissenschaften den
Eindruck hervor, als ob wir uns eben jetzt in nächster
Nähe der alexandrinisch-griechischen Welt befänden
und als ob der Pendel der Geschichte wieder nach dem
Punkte zurückschwänge, von wo er zu schwingen begann, fort in rätselhafte Ferne und Verlorenheit.
Das Bild unserer gegenwärtigen Welt ist durchaus
kein neues: immer mehr muss es dem, der die Geschichte kennt, so zumute werden, als ob er alte
vertraute Züge eines Gesichtes wiedererkenne. Der
Geist der hellenischen Kultur liegt in unendlicher Zerstreuung auf unserer Gegenwart: während sich die
Gewalten aller Art drängen und man sich die Früchte
der modernen Wissenschaften und Fertigkeiten als
Austauschmittel bietet, dämmert in blassen Zügen
wieder das Bild des Hellenischen, aber noch ganz fern
und geisterhaft, auf. Die Erde, die bisher zur Genüge
orientalisiert worden ist, sehnt sich wieder nach der
Hellenisierung; wer ihr hier helfen will, der hat freilich
Schnelligkeit und einen geflügelten Fuß von Nöten,
um die mannigfachsten und entferntesten Punkte des
Wissens, die entlegensten Weltteile der Begabung
zusammenzubringen, um das ganze ungeheuer ausgespannte Gefilde zu durchlaufen und zu beherrschen.
So ist denn jetzt eine Reihe von Gegen-Alexandern
nötig geworden, welche die mächtigste Kraft haben,
zusammenzuziehen und zu binden, die entferntesten
Fäden heranzulangen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren. Nicht den gordischen
Knoten der griechischen Kultur zu lösen, wie es
Alexander tat, so dass seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern ihn zu binden,
nachdem er gelöst war --- das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein
medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringierende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen
Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den
Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und
ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ordnenden Geistes: denn er ist
ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Welt. Man wird
sich an einer solchen Vorstellung nicht irre machen
lassen, wenn man diese allgemeinste Aufgabe, die sein
Genius ihm gestellt hat, mit der viel engeren und
näheren vergleicht, an welche man jetzt zuerst bei
dem Namen Wagner zu denken pflegt. Man erwartet
von ihm eine Reformation des Theaters: gesetzt, dieselbe
gelänge ihm, was wäre denn damit für jene höhere und
fernere Aufgabe getan?
Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert
und reformiert: so notwendig hängt in unserer neueren
Welt eins an dem andern, dass, wer nur einen Nagel
herauszieht, das Gebäude wanken und fallen macht.
Auch von jeder anderen wirklichen Reform wäre dasselbe zu erwarten, was wir hier von der Wagnerschen,
mit dem Anscheine der Übertreibung, aussagen. Es
ist gar nicht möglich, die höchste und reinste Wirkung
der theatralischen Kunst herzustellen, ohne nicht
überall, in Sitte und Staat, in Erziehung und Verkehr,
zu neuern. Liebe und Gerechtigkeit, an einem Punkte,
nämlich hier im Bereiche der Kunst, mächtig geworden,
müssen nach dem Gesetz ihrer inneren Not weiter um
sich greifen und können nicht wieder in die Regungslosigkeit ihrer früheren Verpuppung zurück. Schon
um zu begreifen, inwiefern die Stellung unserer Künste
zum Leben ein Symbol der Entartung dieses Lebens
ist, inwiefern unsere Theater für die, welche sie bauen
und besuchen, eine Schmach sind, muss man völlig
umlernen und das Gewohnte und Alltägliche einmal
als etwas sehr Ungewöhnliches und Verwickeltes ansehn können. Seltsame Trübung des Urteils, schlecht
verhehlte Sucht nach Ergötzlichkeit, nach Unterhaltung
um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten, Wichtigtun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von
Seiten der Ausführenden, brutale Gier nach Geldgewinn
von Seiten der Unternehmenden, Hohlheit und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft, welche an das Volk
nur so weit denkt, als es ihr nützt oder gefährlich ist
und Theater und Konzerte besucht, ohne je dabei an
Pflichten erinnert zu werden --- dies alles zusammen
bildet die dumpfe und verderbliche Luft unserer
heutigen Kunstzustände: ist man aber erst so an dieselbe gewöhnt, wie es unsere Gebildeten sind, so
wähnt man wohl, diese Luft zu seiner Gesundheit
nötig zu haben und befindet sich schlecht, wenn man,
durch irgendeinen Zwang, ihrer zeitweilig entraten
muss. Wirklich hat man nur ein Mittel, sich in Kürze
davon zu überzeugen, wie gemein, und zwar wie absonderlich und verzwickt gemein unsere Theater-Einrichtungen sind: man halte nur die einstmalige Wirklichkeit des griechischen Theaters dagegen! Gesetzt,
wir wüssten nichts von den Griechen, so wäre unseren
Zuständen vielleicht gar nicht beizukommen, und man
hielte solche Einwendungen, wie sie zuerst von Wagner
in großem Stile gemacht worden sind, für Träumereien
von Leuten, welche im Lande Nirgendsheim zu Hause
sind. Wie die Menschen einmal sind, würde man vielleicht sagen, genügt und gebührt ihnen eine solche
Kunst --- und sie sind nie anders gewesen! --- Sie
sind gewiss anders gewesen, und selbst jetzt gibt es
Menschen, denen die bisherigen Einrichtungen nicht
genügen --- eben dies beweist die Tatsache von
Bayreuth. Hier findet ihr vorbereitete und geweihte
Zuschauer, die Ergriffenheit von Menschen, welche sich
auf dem Höhepunkte ihres Glücks befinden und gerade
in ihm ihr ganzes Wesen zusammengerafft fühlen, um
sich zu weiterem und höherem Wollen bestärken zu
lassen; hier findet ihr die hingebendste Aufopferung der
Künstler und das Schauspiel aller Schauspiele, den
siegreichen Schöpfer eines Werkes, welches selber der
Inbegriff einer Fülle siegreicher Kunst-Taten ist. Dünkt
es nicht fast wie Zauberei, einer solchen Erscheinung
in der Gegenwart begegnen zu können? Müssen nicht
die, welche hier mithelfen und mitschauen dürfen,
schon verwandelt und erneuert sein, um nun auch
fernerhin, in anderen Gebieten des Lebens, zu verwandeln und zu erneuern? Ist nicht ein Hafen nach
der wüsten Weite des Meeres gefunden, liegt hier nicht
Stille über den Wassern gebreitet? --- Wer aus der hier
waltenden Tiefe und Einsamkeit der Stimmung zurück
in die ganz andersartigen Flächen und Niederungen
des Lebens kommt, muss er sich nicht immerfort wie
Isolde fragen: ,,Wie ertrug ich’s nur? Wie ertrag
ich’s noch?" Und wenn er es nicht aushält, sein
Glück und sein Unglück eigensüchtig in sich zu bergen,
so wird er von jetzt ab jede Gelegenheit ergreifen, in
Taten davon Zeugnis abzulegen. Wo sind die,
welche an den gegenwärtigen Einrichtungen leiden?
wird er fragen. Wo sind unsere natürlichen Bundesgenossen, mit denen wir gegen das wuchernde und
unterdrückende Um-sich-greifen der heutigen Gebildetheit kämpfen können? Denn einstweilen haben wir
nur einen Feind --- einstweilen! --- eben jene ,,Gebildeten", für welche das Wort ,,Bayreuth" eine ihrer
tiefsten Niederlagen bezeichnet --- sie haben nicht mitgeholfen, sie waren wütend dagegen, oder zeigten
jene noch wirksamere Schwerhörigkeit, welche jetzt zur
gewohnten Waffe der überlegtesten Gegnerschaft geworden ist. Aber wir wissen eben dadurch, dass sie
Wagners Wesen selber durch ihre Feindseligkeit und
Tücke nicht zerstören, sein Werk nicht verhindern
konnten; noch eins: sie haben verraten, dass sie
schwach sind, und dass der Widerstand der bisherigen
Machtinhaber nicht mehr viele Angriffe aushalten wird.
Es ist der Augenblick für solche, welche mächtig
erobern und siegen wollen, die größten Reiche stehen
offen, ein Fragezeichen ist zu den Namen der Besitzer
gesetzt, so weit es Besitz gibt. So ist zum Beispiel
das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und
überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon
das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche
tatsächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind,
nur einmal zur offenen Empörung und Erklärung
treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmutes
berauben! Ich weiß es: wenn man gerade den stillen
Beitrag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens abstriche, es wäre der empfindlichste Aderlass, durch den man dasselbe schwächen
könnte. Von den Gelehrten zum Beispiel blieben unter
dem alten Regimente nur die durch den politischen
Wahnwitz Angesteckten und die literatenhaften Menschen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches
jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären
der Gewalt und Ungerechtigkeit, an Staat und Gesellschaft nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese
immer böser und rücksichtsloser zu machen, ist ohne
diese Anlehnung etwas Schwächliches und Ermüdetes:
man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es
schon über den Haufen. Wer für die Gerechtigkeit
und die Liebe unter den Menschen kämpft, darf sich
vor ihm am wenigsten fürchten: denn seine eigentlichen Feinde stehen erst vor ihm, wenn er seinen
Kampf, den er einstweilen gegen ihre Vorhut, die heutige
Kultur führt, zu Ende gebracht hat.
Für uns bedeutet Bayreuth die Morgen-Weihe am
Tage des Kampfes. Man könnte uns nicht mehr Unrecht tun, als wenn man annähme, es sei uns um die
Kunst allein zu tun: als ob sie wie ein Heil-- und
Betäubungsmittel zu gelten hätte, mit dem man alle
übrigen elenden Zustände von sich abtun könnte.
Wir sehen im Bilde jenes tragischen Kunstwerkes von
Bayreuth gerade den Kampf der einzelnen mit allem,
was ihnen als scheinbar unbezwingliche Notwendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen,
Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge. Die einzelnen können gar nicht schöner leben, als wenn sie
sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum Tode
reif machen und opfern. Der Blick, mit welchem uns
das geheimnisvolle Auge der Tragödie anschaut, ist
kein erschlaffender und gliederbindender Zauber. Obschon sie Ruhe verlangt, so lange sie uns ansieht; ---
denn die Kunst ist nicht für den Kampf selber da,
sondern für die Ruhepausen vorher und inmitten desselben, für jene Minuten, da man zurückblickend und
vorahnend das Symbolische versteht, da mit dem Gefühl einer leisen Müdigkeit ein erquickender Traum
uns naht. Der Tag und der Kampf bricht gleich an,
die heiligen Schatten verschweben und die Kunst ist
wieder ferne von uns; aber ihre Tröstung liegt über
dem Menschen von der Frühstunde her. Überall
findet ja sonst der einzelne sein persönliches Ungenügen, sein Halb-- und Unvermögen: mit welchem
Mute sollte er kämpfen, wenn er nicht vorher zu
etwas Unpersönlichem geweiht worden wäre! Die
größten Leiden des einzelnen, die es gibt, die Nichtgemeinsamkeit des Wissens bei allen Menschen, die
Unsicherheit der letzten Einsichten und die Ungleichheit des Könnens, das alles macht ihn kunstbedürftig.
Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum
alles leidet und sich Leiden schafft; man kann nicht
sittlich sein, solange der Gang der menschlichen
Dinge durch Gewalt, Trug und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, solange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer um Weisheit gerungen hat und den einzelnen auf die weiseste
Art ins Leben und Wissen hineinführt. Wie sollte man
es nun bei diesem dreifachen Gefühle des Ungenügens
aushalten, wenn man nicht schon in seinem Kämpfen,
Streben und Untergehen etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen vermöchte und nicht aus
der Tragödie lernte, Lust am Rhythmus der großen
Leidenschaft und am Opfer derselben zu haben. Die
Kunst ist freilich keine Lehrerin und Erzieherin für
das unmittelbare Handeln; der Künstler ist nie in
diesem Verstande ein Erzieher und Ratgeber; die
Objekte, welche die tragischen Helden erstreben, sind
nicht ohne Weiteres die erstrebenswerten Dinge an
sich. Wie im Traume ist die Schätzung der Dinge, so
lange wir uns im Banne der Kunst festgehalten fühlen,
verändert: was wir währenddem für so erstrebenswert
halten, dass wir dem tragischen Helden beistimmen,
wenn er lieber den Tod erwählt, als dass er darauf
verzichtete --- das ist für das wirkliche Leben selten
von gleichem Werte und gleicher Tatkraft würdig:
dafür ist eben die Kunst die Tätigkeit des Ausruhenden. Die Kämpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen Kämpfe des Lebens; ihre
Probleme sind Abkürzungen der unendlich verwickelten
Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens.
Aber gerade darin liegt die Größe und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den Schein einer einfacheren
Welt, einer kürzeren Lösung der Lebens-Rätsel erregt.
Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein
entbehren, wie niemand des Schlafes entbehren kann.
Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des
Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach
dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für
Augenblicke, um so größer wird die Spannung
zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und
dem geistig-sittlichen Vermögen des einzelnen. Damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da.
Der einzelne soll zu etwas Überpersönlichem geweiht werden --- das will die Tragödie; er soll die
schreckliche Beängstigung, welche der Tod und die
Zeit dem Individuum macht, verlernen: denn schon im
kleinsten Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas Heiliges begegnen, das allen
Kampf und alle Not überschwenglich aufwiegt --- das
heißt tragisch gesinnt sein. Und wenn die ganze
Menschheit einmal sterben muss --- wer dürfte daran
zweifeln! --- so ist ihr als höchste Aufgabe für alle
kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so ins Eine und
Gemeinsame zusammenzuwachsen, dass sie als ein
Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer
tragischen Gesinnung entgegengehe; in dieser
höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der Menschen
eingeschlossen; aus dem endgültigen Abweisen derselben ergäbe sich das trübste Bild, welches sich ein
Menschenfreund vor die Seele stellen könnte. So empfinde ich es! Es gibt nur eine Hoffnung und eine
Gewähr für die Zukunft des Menschlichen: sie liegt
darin, dass die tragische Gesinnung nicht absterbe. Es würde ein Weheschrei sondergleichen
über die Erde erschallen müssen, wenn die Menschen
sie einmal völlig verlieren sollten; und wiederum gibt
es keine beseligendere Lust als das zu wissen, was wir
wissen --- wie der tragische Gedanke wieder hinein in
die Welt geboren ist. Denn diese Lust ist eine völlig überpersönliche und allgemeine, ein Jubel der Menschheit über den verbürgten Zusammenhang und Fortgang
des Menschlichen überhaupt.
5
Wagner rückte das gegenwärtige Leben und die
Vergangenheit unter den Lichtstrahl einer Erkenntnis,
der stark genug war, um auf ungewohnte Weite hin
damit sehen zu können: deshalb ist er ein Vereinfacher
der Welt; denn immer besteht die Vereinfachung der
Welt darin, dass der Blick des Erkennenden aufs
neue wieder über die ungeheure Fülle und Wüstheit
eines scheinbaren Chaos Herr geworden ist, und das
in eins zusammendrängt, was früher als unverträglich
auseinander lag. Wagner tat dies, indem er zwischen
zwei Dingen, die fremd und kalt wie in getrennten
Sphären zu leben schienen, ein Verhältnis fand:
zwischen Musik und Leben und ebenfalls zwischen
Musik und Drama. Nicht dass er diese Verhältnisse erfunden oder erst geschaffen hätte: sie sind da
und liegen eigentlich vor jedermanns Füßen: so wie
immer das große Problem dem edlen Gesteine gleicht,
über welches Tausende hinwegschreiten, bis endlich
einer es aufhebt. Was bedeutet es, fragt sich Wagner,
dass im Leben der neueren Menschen gerade eine
solche Kunst, wie die der Musik, mit so unvergleichlicher Kraft erstanden ist? Man braucht von diesem
Leben nicht etwa gering zu denken, um hier ein
Problem zu sehen; nein, wenn man alle diesem Leben
eigenen großen Gewalten erwägt und sich das Bild
eines mächtig aufstrebenden, um bewusste Freiheit und um Unabhängigkeit des Gedankens
kämpfenden Daseins vor die Seele stellt --- dann erst
recht erscheint die Musik in dieser Welt als Rätsel.
Muss man nicht sagen: aus dieser Zeit konnte die
Musik nicht erstehen! Was ist dann aber ihre Existenz? Ein Zufall? Gewiss könnte auch ein einzelner
größer Künstler ein Zufall sein, aber das Erscheinen
einer solchen Reihe von großen Künstlern, wie es die
neuere Geschichte der Musik zeigt, und wie es bisher
nur noch einmal, in der Zeit der Griechen, seinesgleichen hatte, gibt zu denken, dass hier nicht Zufall,
sondern Notwendigkeit herrscht. Diese Notwendigkeit eben ist das Problem, auf welches Wagner eine
Antwort gibt.
Es ist ihm zuerst die Erkenntnis eines Notstandes aufgegangen, der so weit reicht, als jetzt überhaupt die Zivilisation die Völker verknüpft: überall ist
hier die Sprache erkrankt, und auf der ganzen
menschlichen Entwicklung lastet der Druck dieser
ungeheuerlichen Krankheit. Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Erreichbaren
steigen musste, um, möglichst ferne von der starken
Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entgegengesetzte, das Reich des Gedankens zu erfassen,
ist ihre Kraft durch dieses übermäßige Sich-Ausrecken
in dem kurzen Zeitraume der neueren Zivilisation erschöpft worden: so dass sie nun gerade das nicht mehr
zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um
über die einfachsten Lebensnöte die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in
seiner Not vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mitteilen: bei
diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache
überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie
mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt,
wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie miteinander sich zu verständigen und zu einem Werke zu
vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in
Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzuteilen, tragen dann
wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen
des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöten entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so
nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch
das Leiden der Konvention hinzu, das heißt des
Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne
ein Übereinkommen des Gefühls. Wie in dem abwärts laufenden Gange jeder Kunst ein Punkt erreicht
wird, wo ihre krankhaft wuchernden Mittel und Formen
ein tyrannisches Übergewicht über die jungen Seelen
der Künstler erlangen und sie zu ihren Sklaven machen,
so ist man jetzt, im Niedergange der Sprachen, der
Sklave der Worte; unter diesem Zwange vermag niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen,
und wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität
zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche
ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie
deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend
entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum
in das Netz der ,,deutlichen Begriffe" einspinne und
richtig denken lehre: als ob es irgendeinen Wert
hätte, jemanden zu einem richtig denkenden und
schließenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu
machen. Wenn nun, in einer solchermaßen verwundeten Menschheit, die Musik unserer deutschen Meister
erklingt, was kommt da eigentlich zum Erklingen?
Eben nur die richtige Empfindung, die Feindin
aller Konvention, aller künstlichen Entfremdung und
Unverständlichkeit zwischen Mensch und Mensch: diese
Musik ist Rückkehr zur Natur, während sie zugleich
Reinigung und Umwandlung der Natur ist; denn in
der Seele der liebevollsten Menschen ist die Nötigung
zu jener Rückkehr entstanden, und in ihrer Kunst
ertönt die in Liebe verwandelte Natur.
Nehmen wir dies als die eine Antwort Wagners
auf die Frage, was die Musik in unserer Zeit bedeutet:
er hat noch eine zweite. Das Verhältnis zwischen
Musik und Leben ist nicht nur das einer Art Sprache
zu einer anderen Art Sprache, es ist auch das Verhältnis der vollkommenen Hörwelt zu der gesamten
Schauwelt. Als Erscheinung für das Auge genommen
und verglichen mit den früheren Erscheinungen des
Lebens, zeigt aber die Existenz der neueren Menschen
eine unsägliche Armut und Erschöpfung, trotz der
unsäglichen Buntheit, durch welche nur der oberflächlichste Blick sich beglückt fühlen kann. Man sehe nur
etwas schärfer hin und zerlege sich den Eindruck dieses
heftig bewegten Farbenspieles: ist das Ganze nicht wie
das Schimmern und Aufblitzen zahlloser Steinchen und
Stückchen, welche man früheren Kulturen abgeborgt
hat? Ist hier nicht alles unzugehöriger Prunk, nachgeäffte Bewegung, angemaßte Äußerlichkeit? Ein
Kleid in bunten Fetzen für den Nackten und Frierenden? Ein scheinbarer Tanz der Freude, dem Leidenden
zugemutet? Mienen üppigen Stolzes, von einem tief
Verwundeten zur Schau getragen? Und dazwischen,
nur durch die Schnelligkeit der Bewegung und des
Wirbels verhüllt und verhehlt --- graue Ohnmacht,
nagender Unfrieden, arbeitsamste Langeweile, unehrliches Elend! Die Erscheinung des modernen Menschen
ist ganz und gar Schein geworden; er wird in dem,
was er jetzt vorstellt, nicht selber sichtbar, viel eher
versteckt; und der Rest erfinderischer Kunsttätigkeit,
der sich noch bei einem Volke, etwa bei den Franzosen und Italienern erhalten hat, wird auf die Kunst
dieses Versteckenspielens verwendet. Überall, wo
man jetzt ,,Form" verlangt, in der Gesellschaft und
der Unterhaltung, im schriftstellerischen Ausdruck,
im Verkehr der Staaten miteinander, versteht man
darunter unwillkürlich einen gefälligen Anschein,
den Gegensatz des wahren Begriffs von Form als
von einer notwendigen Gestaltung, die mit ,,gefällig" und ,,ungefällig" nichts zu tun hat, weil
sie eben notwendig und nicht beliebig ist. Aber
auch dort, wo man jetzt unter Völkern der Zivilisation nicht die Form ausdrücklich verlangt, besitzt man ebensowenig jene notwendige Gestaltung,
sondern ist in dem Streben nach dem gefälligen Anschein nur nicht so glücklich, wenn auch mindestens
ebenso eifrig. Wie gefällig nämlich hier und dort
der Anschein ist und weshalb es jedem gefallen muss,
dass der moderne Mensch sich wenigstens bemüht, zu
scheinen, das fühlt jeder in dem Maße, in welchem
er selber moderner Mensch ist. ,,Nur die Galeerensklaven kennen sich", sagt Tasso, ,,doch wir verkennen nur die anderen höflich, damit sie wieder
uns verkennen sollen."
In dieser Welt der Formen und der erwünschten
Verkennung erscheinen nun die von der Musik erfüllten
Seelen, --- zu welchem Zwecke? Sie bewegen sich
nach dem Gange des großen, freien Rhythmus, in
vornehmer Ehrlichkeit, in einer Leidenschaft, welche
überpersönlich ist, sie erglühen von dem machtvoll
ruhigen Feuer der Musik, das aus unerschöpflicher
Tiefe in ihnen ans Licht quillt --- dies alles zu
welchem Zwecke?
Durch diese Seelen verlangt die Musik nach ihrer
ebenmäßigen Schwester, der Gymnastik, als nach
ihrer notwendigen Gestaltung im Reiche des Sichtbaren: im Suchen und Verlangen nach ihr wird sie
zur Richterin über die ganze verlogene Schau-- und
Scheinwelt der Gegenwart. Dies ist die zweite Antwort Wagners auf die Frage, was die Musik in dieser
Zeit zu bedeuten habe. Helft mir, so ruft er allen zu,
die hören können, helft mir jene Kultur zu entdecken,
von der meine Musik als die wiedergefundene Sprache
der richtigen Empfindung wahrsagt, denkt darüber
nach, dass die Seele der Musik sich jetzt einen Leib
gestalten will, dass sie durch euch alle hindurch zur
Sichtbarkeit in Bewegung, Tat, Einrichtung und Sitte
ihren Weg sucht! Es gibt Menschen, welche diesen
Zuruf verstehen, und es werden ihrer immer mehr;
diese begreifen es auch zum ersten Male wieder, was
es heißen will, den Staat auf Musik zu gründen, etwas, das die älteren Hellenen nicht nur begriffen
hatten, sondern auch von sich selbst forderten: während
dieselben Verständnisvollen über dem jetzigen Staat
ebenso unbedingt den Stab brechen werden, wie es die
meisten Menschen jetzt schon über der Kirche tun.
Der Weg zu einem so neuen und doch nicht allezeit
unerhörten Ziele führt dazu, sich einzugestehen, worin
der beschämendste Mangel in unserer Erziehung und
der eigentliche Grund ihrer Unfähigkeit, aus dem
Barbarischen herauszuheben, liegt: es fehlt ihr die bewegende und gestaltende Seele der Musik, hingegen
sind ihre Erfordernisse und Einrichtungen das Erzeugnis einer Zeit, in welcher jene Musik noch gar nicht
geboren war, auf die wir hier ein so vielbedeutendes
Vertrauen setzen. Unsere Erziehung ist das rückständigste Gebilde in der Gegenwart und gerade rückständig in Bezug auf die einzige neu hinzugekommene
erzieherische Gewalt, welche die jetzigen Menschen
vor denen früherer Jahrhunderte voraushaben --- oder
haben könnten, wenn sie nicht mehr so besinnungslos
gegenwärtig unter der Geißel des Augenblicks fortleben wollten! Weil sie bis jetzt die Seele der Musik
nicht in sich herbergen lassen, so haben sie auch die
Gymnastik im griechischen und Wagnerschen Sinne
dieses Wortes noch nicht geahnt; und dies ist wieder
der Grund, warum ihre bildenden Künstler zur Hoffnungslosigkeit verurteilt sind, solange sie eben, wie
jetzt immer noch, der Musik als Führerin in eine neue
Schauwelt entraten wollen: es mag da an Begabung
wachsen, was da wolle, es kommt zu spät oder zu früh
und jedenfalls zur Unzeit, denn es ist überflüssig und
wirkungslos, da ja selbst das Vollkommene und Höchste
früherer Zeiten, das Vorbild der jetzigen Bildner, überflüssig und fast wirkungslos ist und kaum noch einen
Stein auf den anderen setzt. Sehen sie in ihrem innerlichen Schauen keine neuen Gestalten vor sich, sondern
immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der
Historie, aber nicht dem Leben, und sind tot, bevor
sie gestorben sind: wer aber jetzt wahres, fruchtbares
Leben, das heißt gegenwärtig allein: Musik in sich
fühlt, könnte der sich durch irgendetwas, das sich in
Gestalten, Formen und Stilen abmüht, nur einen
Augenblick zu weiter tragenden Hoffnungen verführen
lassen? Über alle Eitelkeiten dieser Art ist er hinaus;
und er denkt ebenso wenig daran, abseits von seiner
idealen Hörwelt bildnerische Wunder zu finden, als er
von unseren ausgelebten und verfärbten Sprachen noch
große Schriftsteller erwartet. Lieber, als dass er irgendwelchen eitlen Vertröstungen Gehör schenkte, erträgt
er es, den tief unbefriedigten Blick auf unser modernes
Wesen zu richten: mag er voll von Galle und Hass
werden, wenn sein Herz nicht warm genug zum Mitleid
ist! Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er
sich, nach der Art unserer ,,Kunstfreunde", einem
trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht
überantwortete! Aber auch, wenn er mehr kann, als
verneinen und höhnen, wenn er lieben, mitleiden und
mitbauen kann, so muss er doch zunächst verneinen,
um dadurch seiner hilfsbereiten Seele erst Bahn zu
brechen. Damit einmal die Musik viele Menschen zur
Andacht stimme und sie zu Vertrauten ihrer höchsten
Absichten mache, muss erst dem ganzen genusssüchtigen Verkehre mit einer so heiligen Kunst ein Ende
gemacht werden; das Fundament, worauf unsere Kunst-Unterhaltungen, Theater, Museen, Konzertgesellschaften
ruhen, eben jener ,,Kunstfreund", ist mit Bann zu belegen; die staatliche Gunst, welche seinen Wünschen
geschenkt wird, ist in Abgunst zu verwandeln; das
öffentliche Urteil, welches gerade auf Abrichtung zu
jener Kunstfreundschaft einen absonderlichen Wert
legt, ist durch ein besseres Urteil aus dem Felde zu
schlagen. Einstweilen muss uns sogar der erklärte
Kunstfeind als ein wirklicher und nützlicher Bundesgenosse gelten, da das, wogegen er sich feindlich erklärt, eben nur die Kunst, wie sie der ,,Kunstfreund"
versteht, ist: er kennt ja keine andere! Mag er diesem
Kunstfreunde immerhin die unsinnige Vergeudung von
Geld nachrechnen, welche der Bau seiner Theater und
öffentlichen Denkmäler, die Anstellung seiner ,,berühmten" Sänger und Schauspieler, die Unterhaltung seiner
gänzlich unfruchtbaren Kunstschulen und Bildersammlungen verschuldet: gar nicht dessen zu gedenken, was
alles an Kraft, Zeit und Geld in jedem Hauswesen, in
der Erziehung für vermeintliche ,,Kunstinteressen" weggeworfen wird. Da ist kein Hunger und kein Sattwerden, sondern immer nur ein mattes Spiel mit dem
Anscheine von beidem, zur eitelsten Schaustellung ausgedacht, um das Urteil anderer über sich irre zu
führen; oder noch schlimmer: nimmt man die Kunst
hier verhältnismäßig ernst, so verlangt man gar von
ihr die Erzeugung einer Art von Hunger und Begehren,
und findet ihre Aufgabe eben in dieser künstlich erzeugten Aufregung. Als ob man sich fürchtete, an
sich selber durch Ekel und Stumpfheit zu Grunde zu
gehen, ruft man alle bösen Dämonen auf, um sich
durch diese Jäger wie ein Wild treiben zu lassen: man
lechzt nach Leiden, Zorn, Hass, Erhitzung, plötzlichem
Schrecken, atemloser Spannung und ruft den Künstler
herbei als den Beschwörer dieser Geisterjagd. Die
Kunst ist jetzt in dem Seelen-Haushalte unserer Gebildeten ein ganz erlogenes oder ein schmähliches,
entwürdigendes Bedürfnis, entweder ein Nichts oder
ein böses Etwas. Der Künstler, der bessere und
seltenere, ist wie von einem betäubenden Traume befangen, dies alles nicht zu sehen, und wiederholt
zögernd mit unsicherer Stimme gespenstisch schöne
Worte, die er von ganz fernen Orten her zu hören
meint, aber nicht deutlich genug vernimmt; der Künstler
dagegen von ganz modernem Schlage, kommt in voller
Verachtuug gegen das traumselige Tasten und Reden
seines edleren Genossen daher und führt die ganze
kläffende Meute zusammengekoppelter Leidenschaften
und Scheußlichkeiten am Strick mit sich, um sie nach
Verlangen auf die modernen Menschen loszulassen:
diese wollen ja lieber gejagt, verwundet und zerrissen
werden, als mit sich selber in der Stille beisammenwohnen zu müssen. Mit sich selber! --- dieser Gedanke schüttelt die modernen Seelen, das ist ihre
Angst und Gespensterfurcht.
Wenn ich mir in volkreichen Städten die Tausende
ansehe, wie sie mit dem Ausdrucke der Dumpfheit
oder der Hast vorübergehen, so sage ich mir immer
wieder: es muss ihnen schlecht zumute sein. Für
diese alle aber ist die Kunst bloß deshalb da, damit
ihnen noch schlechter zumute werde, noch dumpfer
und sinnloser, oder noch hastiger und begehrlicher.
Denn die unrichtige Empfindung reitet und drillt
sie unablässig und lässt durchaus nicht zu, dass sie
sich selber ihr Elend eingestehen dürfen; wollen sie
sprechen, so flüstert ihnen die Konvention etwas ins
Ohr, worüber sie vergessen, was sie eigentlich sagen
wollten; wollen sie sich miteinander verständigen, so
ist ihr Verstand wie durch Zaubersprüche gelähmt,
so dass sie Glück nennen, was ihr Unglück ist, und
sich zum eigenen Unsegen noch recht geflissentlich
miteinander verbinden. So sind sie ganz und gar
verwandelt und zu willenlosen Sklaven der unrichtigen
Empfindung herabgesetzt.
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Nur an zwei Beispielen will ich zeigen, wie verkehrt die Empfindung in unserer Zeit geworden ist
und wie die Zeit kein Bewusstsein über diese Verkehrtheit hat. Ehemals sah man mit ehrlicher Vornehmheit
auf die Menschen herab, die mit Geld Handel treiben,
wenn man sie auch nötig hatte; man gestand sich
ein, dass jede Gesellschaft ihre Eingeweide haben
müsse. Jetzt sind sie die herrschende Macht in der
Seele der modernen Menschheit, als der begehrlichste Teil derselben. Ehemals warnte man vor
nichts mehr, als den Tag, den Augenblick zu ernst zu
nehmen und empfahl das nil admirari und die Sorge
für die ewigen Anliegenheiten; jetzt ist nur eine Art
von Ernst in der modernen Seele übriggeblieben, er
gilt den Nachrichten, welche die Zeitung oder der
Telegraph bringt. Den Augenblick benutzen und, um
von ihm Nutzen zu haben, ihn so schnell wie möglich
beurteilen! --- man könnte glauben, es sei den gegenwärtigen Menschen auch nur eine Tugend übriggeblieben, die der Geistesgegenwart. Leider ist es in
Wahrheit vielmehr die Allgegenwart einer schmutzigen
unersättlichen Begehrlichkeit und einer überallhin
spähenden Neugierde bei jedermann. Ob überhaupt
der Geist jetzt gegenwärtig sei --- wir wollen die
Untersuchung darüber den künftigen Richtern zuschieben, welche die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten werden. Aber gemein ist dies Zeitalter;
das kann man schon jetzt sehen, weil es das ehrt, was
frühere vornehme Zeitalter verachteten; wenn es nun
aber noch die ganze Kostbarkeit vergangener Weisheit
und Kunst sich angeeignet hat und in diesem reichsten
aller Gewänder einhergeht, so zeigt es ein unheimliches
Selbstbewusstsein über seine Gemeinheit darin, dass es
jenen Mantel nicht braucht, um sich zu wärmen, sondern
nur um über sich zu täuschen. Die Not, sich zu verstellen und zu verstecken, erscheint ihm dringender,
als die, nicht zu erfrieren. So benutzen die jetzigen
Gelehrten und Philosophen die Weisheit der Inder und
Griechen nicht, um in sich weise und ruhig zu werden:
ihre Arbeit soll bloß dazu dienen, der Gegenwart einen
täuschenden Ruf der Weisheit zu verschaffen. Die
Forscher der Tiergeschichte bemühen sich, die tierischen Ausbrüche von Gewalt und List und Rachsucht
im jetzigen Verkehre der Staaten und Menschen untereinander als unabänderliche Naturgesetze hinzustellen.
Die Historiker sind mit ängstlicher Beflissenheit darauf
aus, den Satz zu beweisen, dass jede Zeit ihr eigenes
Recht, ihre eigenen Bedingungen habe, --- um für das
kommende Gerichtsverfahren, mit dem unsere Zeit
heimgesucht wird, gleich den Grundgedanken der Verteidigung vorzubereiten. Die Lehre vom Staat, vom
Volke, von der Wirtschaft, dem Handel, dem Rechte
--- alles hat jetzt jenen vorbereitend apologetischen Charakter; ja es scheint, was von Geist noch
tätig ist, ohne bei dem Getriebe des großen Erwerb-- und Machtmechanismus selbst verbraucht zu werden,
hat seine einzige Aufgabe im Verteidigen und Entschuldigen der Gegenwart.
Vor welchem Kläger? Das fragt man da mit Befremden.
Vor dem eigenen schlechten Gewissen.
Und hier wird auch mit einem Male die Aufgabe
der modernen Kunst deutlich: Stumpfsinn oder Rausch!
Einschläfern oder betäuben! Das Gewissen zum Nichtwissen bringen, auf diese oder die andere Weise!
Der modernen Seele über das Gefühl von Schuld hinweghelfen, nicht ihr zur Unschuld zurück verhelfen!
Und dies wenigstens auf Augenblicke! Den Menschen
vor sich selber verteidigen, indem er in sich selber
zum Schweigen-Müssen, zum Nicht-hören-Können gebracht wird! --- Den wenigen, welche diese beschämendste Aufgabe, diese schreckliche Entwürdigung der
Kunst nur einmal wirklich empfunden haben, wird die
Seele von Jammer und Erbarmen bis zum Rande voll
geworden sein und bleiben: aber auch von einer neuen
übermächtigen Sehnsucht. Wer die Kunst befreien,
ihre unentweihte Heiligkeit wiederherstellen wollte, der
müsste sich selber erst von der modernen Seele befreit
haben; nur als ein Unschuldiger dürfte er die Unschuld
der Kunst finden, er hat zwei ungeheure Reinigungen
und Weihungen zu vollbringen. Wäre er dabei siegreich, spräche er aus befreiter Seele mit seiner befreiten
Kunst zu den Menschen, so würde er dann erst in die
größte Gefahr, in den ungeheuersten Kampf geraten;
die Menschen würden ihn und seine Kunst lieber zerreißen, als dass sie zugestünden, wie sie aus Scham
vor ihnen vergehen müssen. Es wäre möglich, dass
die Erlösung der Kunst, der einzige zu erhoffende Lichtblick in der neueren Zeit, ein Ereignis für ein paar
einsame Seelen bliebe, während die vielen es fort und
fort aushielten, in das flackernde und qualmende Feuer
ihrer Kunst zu sehen: sie wollen ja nicht Licht,
sondern Blendung, sie hassen ja das Licht --- über
sich selbst.
So weichen sie dem neuen Lichtbringer aus; aber
er geht ihnen nach, gezwungen von der Liebe, aus der
er geboren ist und will sie zwingen. ,,Ihr sollt durch
meine Mysterien hindurch", ruft er ihnen zu, ,,ihr braucht
ihre Reinigungen und Erschütterungen. Wagt es zu
eurem Heil und lasst einmal das trüb erleuchtete Stück
Natur und Leben, welches ihr allein zu kennen scheint;
ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist,
ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in
euren Tag zurückkehrt, welches Leben wirklicher und
wo eigentlich der Tag, wo die Höhle ist. Die Natur
ist nach innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger,
furchtbarer, ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich
lebt: lernt es, selbst wieder Natur zu werden und lasst
euch dann mit und in ihr durch meinen Liebes-- und
Feuerzauber verwandeln."
Es ist die Stimme der Kunst Wagners, welche
so zu den Menschen spricht. Dass wir Kinder eines
erbärmlichen Zeitalters ihren Ton zuerst hören durften,
zeigt, wie würdig des Erbarmens gerade dies Zeitalter
sein muss, und zeigt überhaupt, dass wahre Musik ein
Stück Fatum und Urgesetz ist; denn es ist gar nicht
möglich, ihr Erklingen gerade jetzt aus einem leeren
sinnlosen Zufall abzuleiten; ein zufälliger Wagner wäre
durch die Übergewalt des anderen Elementes, in
welches er hineingeworfen wurde, zerdrückt worden.
Aber über dem Werden des wirklichen Wagner liegt
eine verklärende und rechtfertigende Notwendigkeit.
Seine Kunst, im Entstehen betrachtet, ist das herrlichste
Schauspiel, so leidvoll auch jenes Werden gewesen
sein mag, denn Vernunft, Gesetz, Zweck zeigt sich
überall. Der Betrachtende wird, im Glücke dieses
Schauspiels, dieses leidvolle Werden selbst preisen und
mit Lust erwägen, wie der ur-bestimmten Natur und
Begabung jegliches zu Heil und Gewinn werden muss,
so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird, wie jede Gefährlichkeit sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener macht, wie sie sich von Gift und Unglück
nährt und gesund und stark dabei wird. Das Gespött
und Widersprechen der umgebenden Welt ist ihr Reiz
und Stachel; verirrt sie sich, so kommt sie mit der
wunderbarsten Beute aus Irrnis und Verlorenheit heim;
schläft sie, so ,,schläft sie nur neue Kraft sich an".
Sie stählt selber den Leib und macht ihn rüstiger;
sie zehrt nicht am Leben, je mehr sie lebt; sie waltet
über dem Menschen wie eine beschwingte Leidenschaft
und lässt ihn gerade dann fliegen, wenn sein Fuß im
Sande ermüdet, am Gestein wund geworden ist. Sie
kann nicht anders als mitteilen, jedermann soll an
ihrem Werke mitwirken, sie geizt nicht mit ihren
Gaben. Zurückgewiesen, schenkt sie reichlicher; gemissbraucht von dem Beschenkten, gibt sie auch das
kostbarste Kleinod, das sie hat, noch hinzu --- und noch
niemals waren die Beschenkten der Gabe ganz würdig,
so lautet die älteste und jüngste Erfahrung. Dadurch
ist die ur-bestimmte Natur, durch welche die Musik
zur Welt der Erscheinung spricht, das rätselvollste
Ding unter der Sonne, ein Abgrund, in welchem Kraft
und Güte gepaart ruhen, eine Brücke zwischen Selbst
und Nicht-Selbst. Wer vermöchte den Zweck deutlich
zu nennen, zu welchem sie überhaupt da ist, wenn
auch selbst die Zweckmäßigkeit in der Art, wie sie
wurde, sich erraten lassen sollte? Aber aus der
seligsten Ahnung heraus darf man fragen: sollte wirklich das Größere des Geringeren wegen da sein, die
größte Begabung zu Gunsten der kleinsten, die höchste
Tugend und Heiligkeit um der Gebrechlichen willen?
Musste die wahre Musik erklingen, weil die Menschen
sie am wenigsten verdienten, aber am meisten
ihrer bedurften? Man versenke sich nur einmal
in das überschwengliche Wunder dieser Möglichkeit:
schaut man von da auf das Leben zurück, so leuchtet
es, so trüb und umnebelt es vorher auch erscheinen
mochte. ---
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Es ist nicht anders möglich: der Betrachtende, vor
dessen Blick eine solche Natur wie die Wagners steht,
muss unwillkürlich von Zeit zu Zeit auf sich, auf seine
Kleinheit und Gebrechlichkeit zurückgeworfen werden
und wird sich fragen: was soll sie dir? Wozu bist denn
du eigentlich da? --- Wahrscheinlich fehlt ihm dann
die Antwort, und er steht vor seinem eigenen Wesen
befremdet und betroffen still. Mag es ihm dann genügen, eben dies erlebt zu haben; mag er eben darin,
dass er sich seinem Wesen entfremdet fühlt,
die Antwort auf jene Fragen hören. Denn gerade mit
diesem Gefühle nimmt er teil an der gewaltigsten
Lebensäußerung Wagners, dem Mittelpunkte seiner
Kraft, jener dämonischen Übertragbarkeit und Selbstentäußerung seiner Natur, welche sich anderen ebenso
mitteilen kann, als sie andere Wesen sich selber
mitteilt und im Hingeben und Annehmen ihre Größe
hat. Indem der Betrachtende scheinbar der aus-- und
überströmenden Natur Wagners unterliegt, hat er an
ihrer Kraft selber Anteil genommen und ist so gleichsam durch ihn gegen ihn mächtig geworden; und
jeder, der sich genau prüft, weiß, dass selbst zum
Betrachten eine geheimnisvolle Gegnerschaft, die des
Entgegenschauens, gehört. Lässt uns seine Kunst alles
das erleben, was eine Seele erfährt, die auf Wanderschaft geht, an anderen Seelen und ihrem Lose teilnimmt, aus vielen Augen in die Welt blicken lernt, so
vermögen wir nun auch, aus solcher Entfremdung und
Entlegenheit, ihn selbst zu sehen, nachdem wir ihn
selbst erlebt haben. Wir fühlen es dann auf das Bestimmteste: in Wagner will alles Sichtbare der Welt
zum Hörbaren sich vertiefen und verinnerlichen und
sucht seine verlorene Seele; in Wagner will ebenso
alles Hörbare der Welt auch als Erscheinung für das
Auge ans Licht hinaus und hinauf, will gleichsam
Leiblichkeit gewinnen. Seine Kunst führt ihn immer
den doppelten Weg, aus einer Welt als Hörspiel in
eine rätselhaft verwandte Welt als Schauspiel und
umgekehrt; er ist fortwährend gezwungen --- und der
Betrachtende mit ihm --- die sichtbare Bewegtheit in
Seele und Urleben zurück zu übersetzen und wiederum
das verborgenste Weben des Inneren als Erscheinung
zu sehen und mit einem Schein-Leib zu bekleiden.
Dies alles ist das Wesen des dithyrambischen
Dramatikers, diesen Begriff so voll genommen, dass
er zugleich den Schauspieler, Dichter, Musiker umfasst: so wie dieser Begriff aus der einzig vollkommenen
Erscheinung des dithyrambischen Dramatikers vor
Wagner, aus Äschylus und seinen griechischen Kunstgenossen, mit Notwendigkeit entnommen werden muss.
Wenn man versucht hat, die großartigsten Entwickelungen aus inneren Hemmungen oder Lücken herzuleiten, wenn zum Beispiel für Goethe das Dichten eine
Art Auskunftsmittel für einen verfehlten Malerberuf
war, wenn man von Schillers Dramen als von einer
versetzten Volks-Beredtsamkeit reden kann, wenn
Wagner selbst die Förderung der Musik durch die
Deutschen unter anderem auch so sich zu deuten
sucht, dass sie, des verführerischen Antriebes einer
natürlich-melodischen Stimmbegabung entbehrend, die
Tonkunst etwa mit dem gleichen tiefgehenden Ernste
aufzufassen genötigt waren, wie ihre Reformatoren
das Christentum ---: wenn man in ähnlicher Weise
Wagners Entwickelung mit einer solchen inneren
Hemmung in Verbindung setzen wollte, so dürfte man
wohl in ihm eine schauspielerische Urbegabung annehmen, welche es sich versagen musste, sich auf dem
nächsten trivialsten Wege zu befriedigen und welche
in der Heranziehung aller Künste zu einer großen
schauspielerischen Offenbarung ihre Auskunft und ihre
Rettung fand. Aber ebensogut müsste man dann
sagen dürfen, dass die gewaltigste Musiker-Natur, in
ihrer Verzweifelung, zu den Halb-- und Nicht-Musikern
reden zu müssen, den Zugang zu den anderen Künsten
gewaltsam erbrach, um so endlich mit hundertfacher
Deutlichkeit sich mitzuteilen und sich Verständnis,
volkstümlichstes Verständnis zu erzwingen. Wie
man sich nun auch die Entwickelung des Urdramatikers
vorstellen möge, in seiner Reife und Vollendung ist
er ein Gebilde ohne jede Hemmung und Lücke: der
eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann,
als in allen Künsten zugleich denken, der Mittler und
Versöhner zwischen scheinbar getrennten Sphären, der
Wiederhersteller einer Ein-- und Gesamtheit des
künstlerischen Vermögens, welche gar nicht erraten
und erschlossen, sondern nur durch die Tat gezeigt
werden kann. Vor wem aber diese Tat plötzlich getan wird, den wird sie wie der unheimlichste, anziehendste Zauber überwältigen: er steht mit einem
Male vor einer Macht, welche den Widerstand der
Vernunft aufhebt, ja alles andere, in dem man bis
dahin lebte, unvernünftig und unbegreiflich erscheinen
lässt: außer uns gesetzt, schwimmen wir in einem
rätselhaften feuerigen Elemente, verstehen uns selber
nicht mehr, erkennen das Bekannteste nicht wieder;
wir haben kein Maß mehr in der Hand, alles Gesetzliche, alles Starre beginnt sich zu bewegen, jedes Ding
leuchtet in neuen Farben, redet in neuen Schriftzeichen
zu uns: --- da muss man schon Plato sein, um, bei
diesem Gemisch von gewaltsamer Wonne und Furcht,
sich doch so entschließen zu können, wie er tut und
zu dem Dramatiker zu sprechen: ,,wir wollen einen
Mann, der in Folge seiner Weisheit alles Mögliche
werden und alle Dinge nachahmen könnte, wenn er in
unser Gemeinwesen kommt, als etwas Heiliges und
Wundervolles verehren, Salben über sein Haupt gießen
und es mit Wolle bekränzen, aber ihn zu bewegen
suchen, dass er in ein anderes Gemeinwesen gehe."
Mag es sein, dass einer, der im platonischen Gemeinwesen lebt, so etwas über sich gewinnen kann und
muss: wir anderen alle, die wir so gar nicht in ihm,
sondern in ganz anderen Gemeinwesen leben, sehnen
uns und verlangen darnach, dass der Zauberer zu uns
komme, ob wir uns schon vor ihm fürchten, --- gerade
damit unser Gemeinwesen und die böse Vernunft und
Macht, deren Verkörperung es ist, einmal verneint
erscheine. Ein Zustand der Menschheit, ihrer Gemeinschaft, Sitte, Lebensordnung, Gesamteinrichtung,
welcher des nachahmenden Künstlers entbehren könnte,
ist vielleicht keine volle Unmöglichkeit, aber doch
gehört gerade dies Vielleicht zu den verwegensten, die
es gibt und wiegt einem Vielschwer ganz gleich; davon zu reden, sollte nur einem freistehen, welcher den
höchsten Augenblick alles Kommenden, vorwegnehmend,
erzeugen und fühlen könnte und der dann sofort, gleich
Faust, blind werden müsste --- und dürfte: --- denn wir
haben selbst zu dieser Blindheit kein Recht, während
zum Beispiel Plato gegen alles Wirklich-Hellenische
mit Recht blind sein durfte, nach jenem einzigen Blick
seines Auges, den er in das Ideal-Hellenische getan
hatte. Wir anderen, brauchen vielmehr deshalb die
Kunst, weil wir gerade Angesichts des Wirklichen sehend geworden sind: und wir brauchen
gerade den All-Dramatiker, damit er uns aus der
furchtbaren Spannung wenigstens auf Stunden erlöse,
welche der sehende Mensch jetzt zwischen sich und
den ihm aufgebürdeten Aufgaben empfindet. Mit ihm
steigen wir auf die höchsten Sprossen der Empfindung
und wähnen uns dort erst wieder in der freien Natur und
im Reiche der Freiheit; von dort aus sehen wir wie in
ungeheuren Luft-Spiegelungen uns und unseres Gleichen
im Ringen, Siegen und Untergehen als etwas Erhabenes
und Bedeutungsvolles, wir haben Lust am Rhythmus
der Leidenschaft und am Opfer derselben, wir hören
bei jedem gewaltigen Schritte des Helden den dumpfen
Widerhall des Todes und verstehen in dessen Nähe
den höchsten Reiz des Lebens: --- so zu tragischen
Menschen umgewandelt, kehren wir in seltsam getrösteter Stimmung zum Leben zurück, mit dem neuen
Gefühl der Sicherheit, als ob wir nun aus den größten
Gefahren, Ausschreitungen und Ekstasen den Weg
zurück ins Begrenzte und Heimische gefunden hätten:
dorthin, wo man überlegen-gütig und jedenfalls vornehmer, als vordem, verkehren kann; denn alles, was
hier als Ernst und Not, als Lauf zu einem Ziele erscheint, ähnelt, im Vergleiche mit der Bahn, die wir
selber, wenn auch nur im Traume, durchlaufen haben,
nur wunderlich vereinzelten Stücken jener All-Erlebnisse, deren wir uns mit Schrecken bewusst sind; ja
wir werden ins Gefährliche geraten und versucht
sein, das Leben zu leicht zu nehmen, gerade deshalb,
weil wir es in der Kunst mit so ungemeinem Ernste
erfasst haben: um auf ein Wort hinzuweisen, welches
Wagner von seinen Lebens-Schicksalen gesagt hat.
Denn wenn schon uns, als denen, welche eine solche
Kunst der dithyrambischen Dramatik nur erfahren,
aber nicht schaffen, der Traum fast für wahrer gelten
will, als das Wache, Wirkliche: wie muss erst der
Schaffende diesen Gegensatz abschätzen! Da steht er
selber inmitten aller der lärmenden Anrufe und Zudringlichkeiten von Tag, Lebensnot, Gesellschaft,
Staat --- als was? Vielleicht als sei er gerade der
einzig Wache, einzig Wahr-- und Wirklich-Gesinnte
unter verworrenen und gequälten Schläfern, unter
lauter Wähnenden, Leidenden; mitunter selbst fühlt er
sich wohl wie von dauernder Schlaflosigkeit erfasst,
als müsse er nun sein so übernächtig helles und bewusstes Leben zusammen mit Schlafwandlern und gespensterhaft ernst tuenden Wesen verbringen: so dass
eben jenes alles, was anderen alltäglich, ihm unheimlich erscheint, und er sich versucht fühlt, dem Eindrucke
dieser Erscheinung mit übermütiger Verspottung zu
begegnen. Aber wie eigentümlich gekreuzt wird
diese Empfindung, wenn gerade zu der Helle seines
schaudernden Übermutes ein ganz anderer Trieb
sich gesellt, die Sehnsucht aus der Höhe in die Tiefe,
das liebende Verlangen zur Erde, zum Glück der Gemeinsamkeit --- dann, wenn er alles dessen gedenkt,
was er als Einsamer-Schaffender entbehrt, als sollte er
nun sofort, wie ein zur Erde niedersteigender Gott, alles Schwache, Menschliche, Verlorene ,,mit feurigen
Armen zum Himmel emporheben", um endlich Liebe
und nicht mehr Anbetung zu finden und sich, in der
Liebe, seiner selbst völlig zu entäußern! Gerade aber
die hier angenommene Kreuzung ist das tatsächliche
Wunder in der Seele des dithyrambischen Dramatikers:
und wenn sein Wesen irgendwo auch vom Begriff zu
erfassen wäre, so müsste es an dieser Stelle sein.
Denn es sind die Zeugungs-Momente seiner Kunst,
wenn er in diese Kreuzung der Empfindungen gespannt
ist, und sich jene unheimlich-übermütige Befremdung
und Verwunderung über die Welt mit dem sehnsüchtigen Drange paart, derselben Welt als Liebender
zu nahen. Was er dann auch für Blicke auf Erde und
Leben wirft, es sind immer Sonnenstrahlen, die ,,Wasser
ziehen", Nebel ballen, Gewitterdünste umher lagern.
Hellsichtig-besonnen und liebend-selbstlos
zugleich fällt sein Blick hernieder: und alles, was
er jetzt mit dieser doppelten Leuchtkraft seines Blickes
sich erhellt, treibt die Natur mit furchtbarer Schnelligkeit zur Entladung aller ihrer Kräfte, zur Offenbarung
ihrer verborgensten Geheimnisse: und zwar durch
Scham. Es ist mehr als ein Bild, zu sagen, dass er
mit jenem Blick die Natur überrascht habe, dass er sie
nackend gesehen habe: da will sie sich nun schamhaft
in ihre Gegensätze flüchten. Das bisher Unsichtbare,
Innere rettet sich in die Sphäre des Sichtbaren und
wird Erscheinung; das bisher nur Sichtbare flieht in
das dunkle Meer des Tönenden: so enthüllt die
Natur, indem sie sich verstecken will, das
Wesen ihrer Gegensätze. In einem ungestüm
rhythmischen und doch schwebenden Tanze, in verzückten Gebärden spricht der Urdramatiker von dem,
was in ihm, was in der Natur sich jetzt begibt: der
Dithyramb seiner Bewegungen ist ebenso sehr schauderndes Verstehen, übermütiges Durchschauen, als
liebendes Nahen, lustvolle Selbst-Entäußerung. Das
Wort folgt berauscht dem Zuge dieses Rhythmus; mit
dem Worte gepaart ertönt die Melodie; und wiederum
wirft die Melodie ihre Funken weiter in das Reich der
Bilder und Begriffe. Eine Traumerscheinung, dem
Bilde der Natur und ihres Freiers ähnlich-unähnlich,
schwebt heran, sie verdichtet sich zu menschlicheren
Gestalten, sie breitet sich aus zur Abfolge eines ganzen
heroisch-übermütigen Wollens, eines wonnereichen
Untergehens und Nicht-mehr-Wollens: --- so entsteht
die Tragödie, so wird dem Leben seine herrlichste
Weisheit, die des tragischen Gedankens, geschenkt, so
endlich erwächst der größte Zauberer und Beglücker
unter den Sterblichen, der dithyrambische Dramatiker. ---
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Das eigentliche Leben Wagners, das heißt die
allmähliche Offenbarung des dithyrambischen Dramatikers war zugleich ein unausgesetzter Kampf mit sich
selbst, soweit er nicht nur dieser dithyrambische Dramatiker war: der Kampf mit der widerstrebenden Welt
wurde für ihn nur deshalb so grimmig und unheimlich,
weil er diese ,,Welt", diese verlockende Feindin, aus
sich selber reden hörte und weil er einen gewaltigen
Dämon des Widerstrebens in sich beherbergte. Als
der herrschende Gedanke seines Lebens in ihm
aufstieg, dass vom Theater aus eine unvergleichliche
Wirkung, die größte Wirkung aller Kunst ausgeübt
werden könne, riss er sein Wesen in die heftigste
Gährung. Es war damit nicht sofort eine klare, lichte
Entscheidung über sein weiteres Begehren und Handeln
gegeben; dieser Gedanke erschien zuerst fast nur in
versucherischer Gestalt, als Ausdruck jenes finsteren,
nach Macht und Glanz unersättlich verlangenden
persönlichen Willens. Wirkung, unvergleichliche Wirkung --- wodurch? auf wen? --- das war von da an das
rastlose Fragen und Suchen seines Kopfes und Herzens.
Er wollte siegen und erobern, wie noch kein Künstler
und womöglich mit einem Schlage zu jener tyrannischen
Allmacht kommen, zu welcher es ihn so dunkel trieb.
Mit eifersüchtigem, tiefspähendem Blicke maß er alles,
was Erfolg hatte, noch mehr sah er sich den an, auf
welchen gewirkt werden musste. Durch das zauberhafte
Auge des Dramatikers, der in den Seelen wie in der
ihm geläufigsten Schrift liest, ergründete er den Zuschauer und Zuhörer, und ob er auch oft bei diesem
Verständnis unruhig wurde, griff er doch sofort nach
den Mitteln, ihn zu bezwingen. Diese Mittel waren
ihm zur Hand; was auf ihn stark wirkte, das wollte
und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern
verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konnte, er zweifelte nie daran, das auch zu
können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine
noch ,,präsumptuösere" Natur als Goethe, der von sich
sagte: ,,immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte
mir eine Krone aufsetzen können und ich hätte gedacht,
das verstehe sich von selbst." Wagners Können und
sein ,,Geschmack" und ebenso seine Absicht --- alles
dies passte zu allen Zeiten so eng ineinander, wie
ein Schlüssel in ein Schloss: --- es wurde miteinander
groß und frei, --- aber damals war es dies nicht. Was
ging ihn die schwächliche, aber edlere und doch
selbstisch-einsame Empfindung an, welche der oder
jener literarisch und ästhetisch erzogene Kunstfreund
abseits von der großen Menge hatte! Aber jene gewaltsamen Stürme der Seelen, welche von der großen Menge
bei einzelnen Steigerungen des dramatischen Gesanges
erzeugt werden, jener plötzlich um sich greifende Rausch
der Gemüter, ehrlich durch und durch und selbstlos ---
das war der Widerhall seines eigenen Erfahrens und
Fühlens, dabei durchdrang ihn eine glühende Hoffnung
auf höchste Macht und Wirkung! So verstand er denn
die große Oper als sein Mittel, durch welches er
seinen herrschenden Gedanken ausdrücken könnte; nach
ihr drängte ihn seine Begierde, nach ihrer Heimat
richtete sich sein Ausblick. Ein längerer Zeitraum
seines Lebens, sammt den verwegensten Wandlungen
seiner Pläne, Studien, Aufenthalte, Bekanntschaften,
erklärt sich allein aus dieser Begierde und den äußeren
Widerständen, denen der dürftige, unruhige, leidenschaftlich-naive deutsche Künstler begegnen musste.
Wie man auf diesem Gebiete zum Herren werde, verstand ein anderer Künstler besser; und jetzt, da es
allmählich bekannt geworden ist, durch welches überaus
künstlich gesponnene Gewebe von Beeinflussungen aller
Art Meyerbeer jeden seiner großen Siege vorzubereiten
und zu erreichen wusste und wie ängstlich die Abfolge
der ,,Effekte" in der Oper selbst erwogen wurde, wird
man auch den Grad von beschämter Erbitterung verstehen, welche über Wagner kam, als ihm über diese
beinahe notwendigen ,,Kunstmittel", dem Publikum
einen Erfolg abzuringen, die Augen geöffnet wurden.
Ich zweifle, ob es einen großen Künstler in der Geschichte gegeben hat, der mit einem so ungeheuren
Irrtume anhob und so unbedenklich und treuherzig
sich mit der empörendsten Gestaltung einer Kunst einließ: und doch war die Art, wie er es tat, von Größe
und deshalb von erstaunlicher Fruchtbarkeit. Denn er
begriff, aus der Verzweifelung des erkannten Irrtums
heraus, den modernen Erfolg, das moderne Publikum
und das ganze moderne Kunst-Lügenwesen. Indem er
zum Kritiker des ,,Effektes" wurde, durchzitterten ihn
die Ahnungen einer eigenen Läuterung. Es war, als
ob von jetzt ab der Geist der Musik mit einem ganz
neuen seelischen Zauber zu ihm redete. Wie wenn er
aus einer langen Krankheit wieder ans Licht käme,
traute er kaum mehr Hand und Auge, er schlich seines
Wegs dahin; und so empfand er es als eine wundervolle
Entdeckung, dass er noch Musiker, noch Künstler sei,
ja dass er es jetzt erst geworden sei.
Jede weitere Stufe im Werden Wagners wird dadurch bezeichnet, dass die beiden Grundkräfte seines
Wesens sich immer enger zusammenschließen: die Scheu
der einen vor der andern lässt nach, das höhere Selbst
begnadet von da an den gewaltsamen irdischeren Bruder nicht mehr mit seinem Dienste, es liebt ihn und
muss ihm dienen. Das Zarteste und Reinste ist endlich,
am Ziele der Entwicklung, auch im Mächtigsten enthalten, der ungestüme Trieb geht seinen Lauf wie vordem, aber auf anderen Bahnen, dorthin, wo das höhere
Selbst heimisch ist; und wiederum steigt dieses zur
Erde herab und erkennt in allem Irdischen sein Gleichnis. Wenn es möglich wäre, in dieser Art vom letzten
Ziele und Ausgange jener Entwicklung zu reden und
noch verständlich zu bleiben, so dürfte auch die bildhafte Wendung zu finden sein, durch welche eine lange
Zwischenstufe jener Entwicklung bezeichnet werden
könnte; aber ich zweifle an jenem und versuche deshalb
auch dieses nicht. Diese Zwischenstufe wird historisch
durch zwei Worte gegen die frühere und spätere abgegrenzt: Wagner wird zum Revolutionär der
Gesellschaft, Wagner erkennt den einzigen bisherigen Künstler, das dichtende Volk. Der herrschende
Gedanke, welcher nach jener großen Verzweiflung
und Buße in neuer Gestalt und mächtiger als je vor
ihm erschien, führte ihn zu beidem. Wirkung, unvergleichliche Wirkung vom Theater aus! --- aber auf wen?
Ihn schauderte bei der Erinnerung, auf wen er bisher
hatte wirken wollen. Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in welcher
die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine
seelenlose oder seelenharte Gesellschaft, welche sich
die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und
Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Befriedigung von Scheinbedürfnissen. Die moderne
Kunst ist Luxus: Das begriff er ebenso wie das andere,
dass sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe
und falle. Nicht anders als diese durch die hartherzigste
und klügste Benutzung ihrer Macht die Unmächtigen,
das Volk, immer dienstbarer, niedriger und unvolkstümlicher zu machen und aus ihm den modernen
,,Arbeiter" zu schaffen wusste, hat sie auch dem Volke
das Größte und Reinste, was es aus tiefster Nötigung
sich erzeugte und worin es als der wahre und einzige
Künstler seine Seele mildherzig mitteilte, seinen Mythus, seine Liedweise, seinen Tanz, seine Spracherfindung
entzogen, um daraus ein wollüstiges Mittel gegen die
Erschöpfung und die Langeweile ihres Daseins zu
destillieren --- die modernen Künste. Wie diese Gesellschaft entstand, wie sie aus den scheinbar entgegengesetzten Machtsphären sich neue Kräfte anzusaugen
wusste, wie zum Beispiel das in Heuchelei und Halbheiten verkommene Christentum sich zum Schutze
gegen das Volk, als Befestigung jener Gesellschaft und
ihres Besitzes, gebrauchen ließ und wie Wissenschaft
und Gelehrte sich nur zu geschmeidig in diesen Frohndienst begaben, das alles verfolgte Wagner durch die
Zeiten hin, um am Schlusse seiner Betrachtungen vor
Ekel und Wut aufzuspringen: er war aus Mitleid mit
dem Volke zum Revolutionär geworden. Von jetzt ab
liebte er es und sehnte sich nach ihm, wie er sich nach
seiner Kunst sehnte, denn ach! nur in ihm, nur im
entschwundenen, kaum mehr zu ahnenden, künstlich
entrückten Volke sah er jetzt den einzigen Zuschauer
und Zuhörer, welcher der Macht seines Kunstwerkes,
wie er es sich träumte, würdig und gewachsen sein
möchte. So sammelte sich sein Nachdenken um die
Frage: Wie entsteht das Volk? Wie ersteht es wieder?
Er fand immer nur eine Antwort: --- wenn eine
Vielheit dieselbe Not litte, wie er sie leidet, das wäre
das Volk, sagt er sich. Und wo die gleiche Not zum
gleichen Drange und Begehren führen würde, müsste
auch dieselbe Art der Befriedigung gesucht, das gleiche
Glück in dieser Befriedigung gefunden werden. Sah
er sich nun darnach um, was ihn selber in seiner Not
am tiefsten tröstete und aufrichtete, was seiner Not
am seelenvollsten entgegenkäme, so war er sich mit
beseligender Gewissheit bewusst, dass dies nur der
Mythus und die Musik seien, der Mythus, den er als
Erzeugnis und Sprache der Not des Volkes kannte,
die Musik, ähnlichen obschon noch rätselvolleren Ursprungs. In diesen beiden Elementen badet und heilt
er seine Seele, ihrer bedarf er am brünstigsten: --- von
da aus darf er zurückschließen, wie verwandt seine
Not mit der des Volkes sei, als es entstand, und wie
das Volk dann wieder stehen müsse, wenn es viele
Wagner geben werde. Wie lebten nun Mythus und
Musik in unserer modernen Gesellschaft, soweit sie
derselben nicht zum Opfer gefallen waren? Ein ähnliches Los war ihnen zuteil geworden, zum Zeugnis
ihrer geheimnisvollen Zusammengehörigkeit: der Mythus war tief erniedrigt und entstellt, zum ,,Märchen",
zum spielerisch beglückenden Besitz der Kinder und
Frauen des verkümmerten Volkes umgeartet, seiner
wundervollen, ernst-heiligen Mannes-Natur gänzlich
entkleidet; die Musik hatte sich unter den Armen und
Schlichten, unter den Einsamen erhalten, dem deutschen
Musiker war es nicht gelungen, sich mit Glück in den
Luxus-Betrieb der Künste einzuordnen, er war selber
zum ungetümlichen verschlossenen Märchen geworden,
voll der rührendsten Laute und Anzeichen, ein unbehilflicher Frager, etwas ganz Verzaubertes und Erlösungsbedürftiges. Hier hörte der Künstler deutlich
den Befehl, der an ihn allein erging --- den Mythus
ins Männliche zurückzuschaffen und die Musik zu entzaubern, zum Reden zu bringen: er fühlte seine Kraft
zum Drama mit einem Male entfesselt, seine Herrschaft
über ein noch unentdecktes Mittelreich zwischen Mythus
und Musik begründet. Sein neues Kunstwerk, in welchem er alles Mächtige, Wirkungsvolle, Beseligende,
was er kannte, zusammenschloss, stellte er jetzt mit seiner
großen schmerzlich einschneidenden Frage vor die
Menschen hin: ,,Wo seid ihr, welche ihr gleich leidet
und bedürft wie ich? Wo ist die Vielheit, welche ich
als Volk ersehne? Ich will euch daran erkennen, dass
ihr das gleiche Glück, den gleichen Trost mit mir
gemein haben sollt: an eurer Freude soll sich mir
euer Leiden offenbaren!" Mit dem Tannhäuser und
dem Lohengrin fragte er also, sah er sich also nach
Seinesgleichen um; der Einsame dürstete nach der
Vielheit.
Aber wie wurde ihm zumute? Niemand gab eine
Antwort, niemand hatte die Frage verstanden. Nicht
dass man überhaupt stille geblieben wäre, im Gegenteil, man antwortete auf tausend Fragen: die er gar
nicht gestellt hatte, man zwitscherte über die neuen
Kunstwerke, als ob sie ganz eigentlich zum Zerredetwerden geschaffen wären. Die ganze ästhetische Schreib-- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den
Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem
Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehrten
nicht weniger, als den deutschen Zeitungsschreibern
zu eigen ist. Wagner versuchte dem Verständnis seiner
Frage durch Schriften nachzuhelfen: neue Verwirrung,
neues Gesumme --- ein Musiker, der schreibt und denkt,
war aller Welt damals ein Unding; nun schrie man,
es ist ein Theoretiker, welcher aus erklügelten Begriffen
die Kunst umgestalten will, steinigt ihn! --- Wagner
war wie betäubt; seine Frage wurde nicht verstanden,
seine Not nicht empfunden, sein Kunstwerk sah einer
Mitteilung an Taube und Blinde, sein Volk einem
Hirngespinste ähnlich; er taumelte und geriet ins
Schwanken. Die Möglichkeit eines völligen Umsturzes
aller Dinge taucht vor seinen Blicken auf, er erschrickt
nicht mehr über diese Möglichkeit: vielleicht ist jenseits
der Umwälzung und Verwüstung eine neue Hoffnung
aufzurichten, vielleicht auch nicht --- und jedenfalls ist
das Nichts besser, als das widerliche Etwas. In Kürze
war er politischer Flüchtling und im Elend.
Und jetzt erst, gerade mit dieser furchtbaren Wendung seines äußeren und inneren Schicksals, beginnt
der Abschnitt im Leben des großen Menschen, auf
dem das Leuchten höchster Meisterschaft wie der Glanz
flüssigen Goldes liegt! Jetzt erst wirft der Genius der
dithyrambischen Dramatik die letzte Hülle von sich!
Er ist vereinsamt, die Zeit erscheint ihm nichtig, er
hofft nicht mehr: so steigt sein Weitblick in die Tiefe,
nochmals, und jetzt hinab bis zum Grunde: dort sieht
er das Leiden im Wesen der Dinge und nimmt von
jetzt ab, gleichsam unpersönlicher geworden, seinen
Teil von Leiden stiller hin. Das Begehren nach
höchster Macht, das Erbgut früherer Zustände, tritt
ganz ins künstlerische Schaffen über; er spricht durch
seine Kunst nur noch mit sich, nicht mehr mit einem
Publikum oder Volke und ringt darnach, ihr die größte
Deutlichkeit und Befähigung für ein solches mächtigstes
Zwiegespräch zu geben. Es war auch im Kunstwerke
der vorhergehenden Periode noch anders: auch in ihm
hatte er eine, wenngleich zarte und veredelte, Rücksicht
auf sofortige Wirkung genommen: als Frage war jenes
Kunstwerk ja gemeint, es sollte eine sofortige Antwort
hervorrufen; und wie oft wollte Wagner es denen,
welche er fragte, erleichtern, ihn zu verstehen --- so
dass er ihnen und ihrer Ungeübtheit im Gefragtwerden
entgegenkam und an ältere Formen und Ausdrucksmittel der Kunst sich anschmiegte; wo er fürchten
musste, mit seiner eigensten Sprache nicht zu überzeugen und verständlich zu werden, hatte er versucht
zu überreden und in einer halb fremden, seinen Zuhörern aber bekannteren Zunge seine Frage kund zu
tun. Jetzt gab es nichts mehr, was ihn zu einer solchen Rücksicht hätte bestimmen können, er wollte jetzt
nur noch eins: sich mit sich verständigen, über das
Wesen der Welt in Vorgängen denken, in Tönen philosophieren; der Rest des Absichtlichen in ihm geht
auf die letzten Einsichten aus. Wer würdig ist zu
wissen, was damals in ihm vorging, worüber er in dem
heiligsten Dunkel seiner Seele mit sich Zwiesprache
pflog --- es sind nicht viele dessen würdig: der höre,
schaue und erlebe Tristan und Isolde, das eigentliche
opus metaphysicum aller Kunst, ein Werk, auf dem
der gebrochene Blick eines Sterbenden liegt, mit seiner
unersättlichen süßesten Sehnsucht nach den Geheimnissen der Nacht und des Todes, fern weg von dem
Leben, welches als das Böse, Trügerische, Trennende
in einer grausenhaften, gespenstischen Morgenhelle und
Schärfe leuchtet: dabei ein Drama von der herbsten
Strenge der Form, überwältigend in seiner schlichten
Größe und gerade nur so dem Geheimnis gemäß, von
dem es redet, dem Tot-sein bei lebendigem Leibe, dem
Eins-sein in der Zweiheit. Und doch ist noch etwas
wunderbarer als dies Werk: der Künstler selber, der
nach ihm in einer kurzen Spanne Zeit ein Weltbild
der verschiedensten Färbung, die Meistersinger von
Nürnberg, schaffen konnte, ja der in beiden Werken
gleichsam nur ausruhte und sich erquickte, um den vor
ihnen entworfenen und begonnenen vierteiligen Riesenbau mit gemessener Eile zu Ende zu türmen, sein
Sinnen und Dichten durch zwanzig Jahre hindurch,
sein Bayreuther Kunstwerk, den Ring des Nibelungen!
Wer sich über die Nachbarschaft des Tristan und der
Meistersinger befremdet fühlen kann, hat das Leben
und Wesen aller wahrhaft großen Deutschen in einem
wichtigen Punkte nicht verstanden: er weiß nicht, auf
welchem Grunde allein jene eigentlich und einzig
deutsche Heiterkeit Luthers, Beethovens und
Wagners erwachsen kann, die von anderen Völkern
gar nicht verstanden wird und den jetzigen Deutschen
selber abhanden gekommen scheint --- jene goldhelle
durchgegorene Mischung von Einfalt, Tiefblick der
Liebe, betrachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit, wie
sie Wagner als den köstlichsten Trank allen denen
eingeschenkt hat, welche tief am Leben gelitten haben
und sich ihm gleichsam mit dem Lächeln der Genesenden wieder zukehren. Und wie er selber so versöhnter
in die Welt blickte, seltener von Grimm und Ekel
erfasst wurde, mehr in Trauer und Liebe auf Macht
verzichtend als vor ihr zurückschaudernd, wie er so
in Stille sein größtes Werk förderte und Partitur
neben Partitur legte, geschah einiges, was ihn aufhorchen ließ: die Freunde kamen, eine unterirdische
Bewegung vieler Gemüter ihm anzukündigen --- es
war noch lange nicht das ,,Volk", das sich bewegte
und hier ankündigte, aber vielleicht der Keim und
erste Lebensquell einer in ferner Zukunft vollendeten,
wahrhaft menschlichen Gesellschaft; zunächst nur die
Bürgschaft, dass sein großes Werk einmal in Hand
und Hut treuer Menschen gelegt werden könne, welche
über dieses herrlichste Vermächtnis an die Nachwelt
zu wachen hätten und zu wachen würdig wären; in
der Liebe der Freunde wurden die Farben am Tage
seines Lebens leuchtender und wärmer; seine edelste
Sorge, gleichsam noch vor Abend mit seinem Werke
ans Ziel zu kommen und für dasselbe eine Herberge
zu finden, wurde nicht mehr von ihm allein gehegt.
Und da begab sich ein Ereignis, welches von ihm
nur symbolisch verstanden werden konnte und für ihn
einen neuen Trost, ein glückliches Wahrzeichen bedeutete. Ein großer Krieg der Deutschen ließ ihn aufblicken, derselben Deutschen, welche er so tief entartet,
so abgefallen von dem hohen deutschen Sinne wusste,
wie er ihn in sich und den anderen großen Deutschen
der Geschichte mit tiefstem Bewusstsein erforscht und
erkannt hatte --- er sah, dass diese Deutschen in einer
ganz ungeheuren Lage zwei echte Tugenden: schlichte
Tapferkeit und Besonnenheit zeigten und begann mit
innerstem Glücke zu glauben, dass er vielleicht doch
nicht der letzte Deutsche sei und dass seinem Werke
einmal noch eine gewaltigere Macht zur Seite stehen
werde als die aufopfernde, aber geringe Kraft der
wenigen Freunde, für jene lange Dauer, wo es seiner
ihm vorherbestimmten Zukunft, als das Kunstwerk dieser Zukunft entgegenharren soll. Vielleicht, dass dieser
Glaube sich nicht dauernd vor dem Zweifel schützen
konnte, je mehr er sich besonders zu sofortigen Hoffnungen zu steigern suchte: genug, er empfand einen
mächtigen Anstoß, um sich an eine noch unerfüllte
hohe Pflicht erinnert zu fühlen.
Sein Werk wäre nicht fertig, nicht zu Ende getan
gewesen, wenn er es nur als schweigende Partitur der
Nachwelt anvertraut hätte: er musste das Unerratbarste,
ihm Vorbehaltenste, den neuen Stil für seinen Vortrag,
seine Darstellung öffentlich zeigen und lehren, um das
Beispiel zu geben, welches kein anderer geben konnte
und so eine Stil-Überlieferung zu begründen,
die nicht in Zeichen auf Papier, sondern in Wirkungen
auf menschliche Seelen eingeschrieben ist. Dies war
um so mehr für ihn zur ernstesten Pflicht geworden,
als seine anderen Werke inzwischen, gerade in Beziehung
auf Stil des Vortrags, das unleidlichste und absurdeste
Schicksal gehabt hatten: sie waren berühmt, bewundert
und wurden --- gemisshandelt, und niemand schien sich
zu empören. Denn so seltsam die Tatsache klingen
mag: während er auf Erfolg bei seinen Zeitgenossen,
in einsichtigster Schätzung derselben, immer grundsätzlicher verzichtete und dem Gedanken der Macht
entsagte, kam ihm der ,,Erfolg" und die ,,Macht";
wenigstens erzählte ihm alle Welt davon. Es half
nichts, dass er auf das Entschiedenste das durchaus
Missverständliche, ja für ihn Beschämende jener ,,Erfolge"
immer wieder ans Licht stellte; man war so wenig
daran gewöhnt, einen Künstler in der Art seiner Wirkungen streng unterscheiden zu sehen, dass man selbst
seinen feierlichsten Verwahrungen nicht einmal recht
traute. Nachdem ihm der Zusammenhang unseres heutigen Theaterwesens und Theatererfolges mit dem
Charakter des heutigen Menschen aufgegangen war,
hatte seine Seele nichts mehr mit diesem Theater zu
schaffen; um ästhetische Schwärmerei und den Jubel
aufgeregter Massen war es ihm nicht mehr zu tun,
ja es musste ihn ergrimmen, seine Kunst so unterschiedlos in den gähnenden Rachen der unersättlichen
Langeweile und Zerstreuungs-Gier eingehen zu sehen.
Wie flach und gedanken-bar hier jede Wirkung sein
musste, wie es hier wirklich mehr auf die Füllung eines
Nimmersatten, als auf die Ernährung eines Hungernden
ankäme, schloss er zumal aus einer regelmäßigen Erscheinung: man nahm überall auch von Seiten der
Aufführenden und Vortragenden seine Kunst wie jede
andere Bühnenmusik hin, nach dem widerlichen Rezeptier-Buche des Opernstiles, ja man schnitt und hackte sich
seine Werke, dank den gebildeten Kapellmeistern,
geradewegs zur Oper zurecht, wie der Sänger ihnen
erst nach sorgfaltiger Entgeistung beizukommen glaubte;
und wenn man es recht gut machen wollte, ging man
mit einer Ungeschicklichkeit und einer prüden Beklemmung auf Wagners Vorschriften ein, ungefähr so, als ob
man den nächtlichen Volks-Auflauf in den Straßen
Nürnbergs, wie er im zweiten Akte der Meistersinger
vorgeschrieben ist, durch künstlich figurierende Ballettänzer darstellen wollte --- und bei alledem schien man
im guten Glauben, ohne böse Nebenabsichten zu handeln. Wagners aufopfernde Versuche, durch die Tat
und das Beispiel nur wenigstens auf schlichte Korrektheit und Vollständigkeit der Aufführung hinzuweisen
und einzelne Sänger in den ganz neuen Stil des Vortrags einzuführen, waren immer wieder vom Schlamm
der herrschenden Gedankenlosigkeit und Gewohnheit
weggeschwemmt worden; sie hatten ihn überdies immer
zu einem Befassen mit eben dem Theater genötigt,
dessen ganzes Wesen ihm zum Ekel geworden war.
Hatte doch selbst Goethe die Lust verloren, den Aufführungen seiner Iphigenie beizuwohnen, ,,ich leide
entsetzlich", hatte er zur Erklärung gesagt, ,,wenn ich
mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muss, die
nicht so zur Erscheinung kommen wie sie sollten."
Dabei nahm der ,,Erfolg" an diesem ihm widerlich
gewordenen Theater immer zu; endlich kam es dahin,
dass gerade die großen Theater fast zumeist von den
fetten Einnahmen lebten, welche die Wagnersche Kunst
in ihrer Verunstaltung als Opernkunst ihnen eintrug.
Die Verwirrung über diese wachsende Leidenschaft des
Theater-Publikums ergriff selbst manche Freunde
Wagners: er musste das Herbste erdulden --- der
große Dulder! --- und seine Freunde von ,,Erfolgen"
und ,,Siegen" berauscht sehen, wo sein einzig-hoher
Gedanke gerade mitten hindurch zerknickt und verleugnet war. Fast schien es, als ob ein in vielen
Stücken ernsthaftes und schweres Volk sich in Bezug
auf seinen ernstesten Künstler eine grundsätzliche
Leichtfertigkeit nicht verkümmern lassen wollte, als ob
sich gerade deshalb an ihm alles Gemeine, Gedankenlose, Ungeschickte und Boshafte des deutschen Wesens
auslassen müsste. --- Als sich nun während des deutschen
Krieges eine großartigere, freiere Strömung der Gemüter zu bemächtigen schien, erinnerte sich Wagner
seiner Pflicht der Treue, um wenigstens sein größtes
Werk vor diesen missverständlichen Erfolgen und Beschimpfungen zu retten und es in seinem eigensten
Rhythmus, zum Beispiel für alle Zeiten hinzustellen: so
erfand er den Gedanken von Bayreuth. Im Gefolge
jener Strömung der Gemüter glaubte er auch auf der
Seite derer, welchen er seinen kostbarsten Besitz anvertrauen wollte, ein erhöhteres Gefühl von Pflicht erwachen zu sehen --- aus dieser Doppelseitigkeit von
Pflichten erwuchs das Ereignis, welches wie ein fremdartiger Sonnenglanz auf der letzten und nächsten Reihe
von Jahren liegt; zum Heile einer fernen, einer nur
möglichen, aber unbeweisbaren Zukunft ausgedacht, für
die Gegenwart und die nur gegenwärtigen Menschen
nicht viel mehr, als ein Rätsel oder ein Greuel, für
die wenigen, die an ihm helfen durften, ein Vorgenuss,
ein Vorausleben der höchsten Art, durch welches sie
weit über ihre Spanne Zeit sich beseligt, beseligend
und fruchtbar wissen, für Wagner selbst eine Verfinsterung von Mühsal, Sorge, Nachdenken, Gram, ein erneutes Wüten der feindseligen Elemente, aber alles überstrahlt von dem Sterne der selbstlosen Treue, und, in diesem Lichte, zu einem unsäglichen Glücke umgewandelt!
Man braucht es kaum auszusprechen: es liegt der
Hauch des Tragischen auf diesem Leben. Und jeder,
der aus seiner eigenen Seele etwas davon ahnen kann,
jeder, für den der Zwang einer tragischen Täuschung
über das Lebensziel, das Umbiegen und Brechen der
Absichten, das Verzichten und Gereinigt-werden durch
Liebe keine ganz fremden Dinge sind, muss in dem,
was Wagner uns jetzt im Kunstwerke zeigt, ein traumhaftes Zurückerinnern an das eigene heldenhafte Dasein
des großen Menschen fühlen. Ganz von Ferne her wird
uns zumute sein, als ob Siegfried von seinen Taten
erzählte: im rührendsten Glück des Gedenkens webt
die tiefe Trauer des Spätsommers, und alle Natur liegt
still in gelbem Abendlichte. ---
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Darüber nachzudenken, was Wagner, der Künstler, ist und an dem Schauspiele eines wahrhaft frei
gewordenen Könnens und Dürfens betrachtend vorüberzugehen: Das wird jeder zu seiner Heilung und Erholung
nötig haben, der darüber, wie Wagner, der Mensch
wurde, gedacht und gelitten hat. Ist die Kunst überhaupt eben nur das Vermögen, das an andere mitzuteilen, was man erlebt hat, widerspricht jedes Kunstwerk sich selbst, wenn es sich nicht zu verstehen geben
kann: so muss die Größe Wagners, des Künstlers,
gerade in jener dämonischen Mitteilbarkeit seiner
Natur bestehen, welche gleichsam in allen Sprachen
von sich redet und das innere, eigenste Erlebnis mit
der höchsten Deutlichkeit erkennen lässt; sein Auftreten
in der Geschichte der Künste gleicht einem vulkanischen
Ausbruche des gesamten ungeteilten Kunstvermögens
der Natur selber, nachdem die Menschheit sich an den
Anblick der Vereinzelung der Künste wie an eine
Regel gewöhnt hatte. Man kann deshalb schwanken,
welchen Namen man ihm beilegen solle, ob er Dichter
oder Bildner oder Musiker zu nennen sei, jedes Wort
in einer außerordentlichen Erweiterung seines Begriffs
genommen, oder ob erst ein neues Wort für ihn geschaffen werden müsse.
Das Dichterische in Wagner zeigt sich darin,
dass er in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht
in Begriffen denkt, das heißt, dass er mythisch denkt,
so wie immer das Volk gedacht hat. Dem Mythus
liegt nicht ein Gedanke zugrunde, wie die Kinder
einer verkünstelten Kultur vermeinen, sondern er selber
ist ein Denken; er teilt eine Vorstellung von der Welt
mit, aber in der Abfolge von Vorgängen, Handlungen
und Leiden. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form
des Gedankens. Vielleicht könnte ein Philosoph etwas
ganz Entsprechendes ihm zur Seite stellen, das ganz
ohne Bild und Handlung wäre und bloß in Begriffen
zu uns spräche: dann hätte man das gleiche in zwei
disparaten Sphären dargestellt: einmal für das Volk
und einmal für den Gegensatz des Volkes, den theoretischen Menschen. An diesen wendet sich also Wagner
nicht; denn der theoretische Mensch versteht von dem
eigentlich Dichterischen, dem Mythus, gerade so viel,
als ein Tauber von der Musik, das heißt, beide sehen
eine ihnen sinnlos scheinende Bewegung. Aus der einen
von jenen disparaten Sphären kann man in die andere
nicht hineinblicken: solange man im Banne des Dichters
ist, denkt man mit ihm, als sei man nur ein fühlendes,
sehendes und hörendes Wesen; die Schlüsse, welche
man macht, sind die Verknüpfungen der Vorgänge,
die man sieht, also tatsächliche Kausalitäten, keine
logischen.
Wenn die Helden und Götter solcher mythischen
Dramen, wie Wagner sie dichtet, nun auch in Worten
sich deutlich machen sollen, so liegt keine Gefahr näher,
als dass diese Wortsprache in uns den theoretischen Menschen aufweckt und dadurch uns in eine andere,
unmythische Sphäre hinüberhebt: so dass wir zuletzt
durch das Wort nicht etwa deutlicher verstanden hätten,
was vor uns vorging, sondern gar nichts verstanden
hätten. Wagner zwang deshalb die Sprache in einen
Urzustand zurück, wo sie fast noch nicht in Begriffen
denkt, wo sie noch selber Dichtung, Bild und Gefühl
ist; die Furchtlosigkeit, mit der Wagner an diese ganz
erschreckende Aufgabe ging, zeigt, wie gewaltsam er
von dem dichterischen Geiste geführt wurde, als einer,
der folgen muss, wohin auch sein gespenstischer Führer
den Weg nimmt. Man sollte jedes Wort dieser Dramen
singen können, und Götter und Helden sollten es in
den Mund nehmen: das war die außerordentliche Anforderung, welche Wagner an seine sprachliche Phantasie stellte. Jeder andere hätte dabei verzagen müssen;
denn unsere Sprache scheint fast zu alt und zu verwüstet zu sein, als dass man von ihr hätte verlangen
dürfen, was Wagner verlangte: und doch rief sein Schlag
gegen die Felsen eine reichliche Quelle hervor. Gerade
Wagner hat, weil er diese Sprache mehr liebte und
mehr von ihr forderte, auch mehr als ein anderer
Deutscher an ihrer Entartung und Schwächung gelitten,
also an den vielfältigen Verlusten und Verstümmelungen
der Formen, an dem schwerfälligen Partikelwesen unserer Satzfügung, an den unsingbaren Hilfszeitwörtern: ---
alles dieses sind ja Dinge, welche durch Sünden und
Verlotterungen in die Sprache hineingekommen sind.
Dagegen empfand er mit tiefem Stolze die auch jetzt
noch vorhandene Ursprünglichkeit und Unerschöpflichkeit dieser Sprache, die tonvolle Kraft ihrer Wurzeln,
in welchen er, im Gegensatz zu den höchst abgeleiteten, künstlich rhetorischen Sprachen der romanischen
Stämme, eine wunderbare Neigung und Vorbereitung zur
Musik, zur wahren Musik ahnt. Es geht eine Lust an
dem Deutschen durch Wagners Dichtung, eine Herzlichkeit und Freimütigkeit im Verkehre mit ihm, wie
so etwas, außer bei Goethe, bei keinem Deutschen sich
nachfühlen lässt. Leiblichkeit des Ausdruckes, verwegene Gedrängtheit, Gewalt und rhythmische Vielartigkeit, ein merkwürdiger Reichtum an starken und bedeutenden Wörtern, Vereinfachung der Satzgliederung,
eine fast einzige Erfindsamkeit in der Sprache des
wogenden Gefühls und der Ahnung, eine mitunter ganz
rein sprudelnde Volkstümlichkeit und Sprichwörtlichkeit --- solche Eigenschaften würden aufzuzählen sein,
und doch wäre dann immer noch die mächtigste und
bewunderungswürdigste vergessen. Wer hintereinander
zwei solche Dichtungen wie Tristan und die Meistersinger liest, wird in Hinsicht auf die Wortsprache ein
ähnliches Erstaunen und Zweifeln empfinden, wie in
Hinsicht auf die Musik: wie es nämlich möglich war,
über zwei Welten, so verschieden an Form, Farbe,
Fügung, als an Seele, schöpferisch zu gebieten. Dies
ist das Mächtigste an der Wagnerschen Begabung,
etwas, das --- allein dem großen Meister gelingen wird:
für jedes Werk eine neue Sprache auszuprägen und
der neuen Innerlichkeit auch einen neuen Leib, einen
neuen Klang zu geben. Wo eine solche allerseltenste
Macht sich äußert, wird der Tadel immer nur kleinlich und unfruchtbar bleiben, welcher sich auf einzelnes
Übermütige und Absonderliche, oder auf die häufigeren
Dunkelheiten des Ausdruckes und Umschleierungen des
Gedankens bezieht. Überdies war denen, welche
bisher am lautesten getadelt haben, im Grunde nicht
sowohl die Sprache als die Seele, die ganze Art zu
leiden und zu empfinden, anstößig und unerhört. Wir
wollen warten, bis diese selber eine andere Seele haben, dann werden sie selber auch eine andere Sprache
sprechen: und dann wird es, wie mir scheint, auch mit
der deutschen Sprache im ganzen besser stehen, als
es jetzt steht.
Vor allem aber sollte niemand, der über Wagner,
den Dichter und Sprachbildner, nachdenkt, vergessen,
dass keines der Wagnerschen Dramen bestimmt ist,
gelesen zu werden und also nicht mit den Forderungen
behelligt werden darf, welche an das Wortdrama gestellt werden. Dieses will allein durch Begriffe und
Worte auf das Gefühl wirken; mit dieser Absicht gehört es unter die Botmäßigkeit der Rhetorik. Aber
die Leidenschaft im Leben ist selten beredt: im Wortdrama muss sie es sein, um überhaupt sich auf irgendeine Art mitzuteilen. Wenn aber die Sprache eines
Volkes sich schon im Zustande des Verfalls und der
Abnutzung befindet, so kommt der Wortdramatiker in
die Versuchung, Sprache und Gedanken ungewöhnlich
aufzufärben und umzubilden; er will die Sprache heben,
damit sie wieder das gehobene Gefühl hervorklingen
lasse, und gerät dabei in die Gefahr, gar nicht verstanden zu werden. Ebenso sucht er der Leidenschaft
durch erhabene Sinnsprüche und Einfälle etwas von
Höhe mitzuteilen und verfällt dadurch wieder in eine
andere Gefahr: er erscheint unwahr und künstlich.
Denn die wirkliche Leidenschaft des Lebens spricht
nicht in Sentenzen und die dichterische erweckt leicht
Misstrauen gegen ihre Ehrlichkeit, wenn sie sich wesentlich von dieser Wirklichkeit unterscheidet. Dagegen gibt Wagner, der erste, welcher die inneren Mängel
des Wortdramas erkannt hat, jeden dramatischen Vorgang in einer dreifachen Verdeutlichung, durch Wort,
Gebärde und Musik; und zwar überträgt die Musik
die Grundregungen im Innern der darstellenden Personen des Dramas unmittelbar auf die Seelen der
Zuhörer, welche jetzt in den Gebärden derselben Personen die erste Sichtbarkeit jener inneren Vorgänge
und in der Wortsprache noch eine zweite abgeblasstere
Erscheinung derselben, übersetzt in das bewusstere
Wollen, wahrnehmen. Alle diese Wirkungen erfolgen
gleichzeitig und durchaus ohne sich zu stören, und
zwingen den, welchem ein solches Drama vorgeführt
wird, zu einem ganz neuen Verstehen und Miterleben,
gleich als ob seine Sinne auf einmal vergeistigter und
sein Geist versinnlichter geworden wäre, und als ob
alles, was aus dem Menschen heraus will und nach
Erkenntnis dürstet, sich jetzt in einem Jubel des Erkennens frei und selig befände. Weil jeder Vorgang
eines Wagnerschen Dramas sich mit der höchsten
Verständlichkeit dem Zuschauer mitteilt, und zwar
durch die Musik von innen heraus erleuchtet und
durchglüht, konnte sein Urheber aller der Mittel entraten, welche der Wortdichter nötig hat, um seinen
Vorgängen Wärme und Leuchtkraft zu geben. Der
ganze Haushalt des Dramas durfte einfacher sein, der
rhythmische Sinn des Baumeisters konnte es wieder
wagen, sich in den großen Gesamtverhältnissen des
Baues zu zeigen; denn es fehlte zu jener absichtlichen
Verwicklung und verwirrenden Vielgestaltigkeit des
Baustils jetzt jede Veranlassung, durch welche der
Wortdichter zu Gunsten seines Werkes das Gefühl der
Verwunderung und des angespannten Interesses zu
erreichen strebt, um dies dann zu dem Gefühl des
beglückten Staunens zu steigern. Der Eindruck der
idealisierenden Ferne und Höhe war nicht erst durch
Kunstgriffe herbeizuschaffen. Die Sprache zog sich
aus einer rhetorischen Breite in die Geschlossenheit
und Kraft einer Gefühlsrede zurück; und trotzdem, dass
der darstellende Künstler viel weniger, als früher, über
das sprach, was er im Schauspiel tat und empfand,
zwangen jetzt innerliche Vorgänge, welche die Angst
des Wortdramatikers vor dem angeblich Undramatischen
bisher von der Bühne fern gehalten hat, den Zuhörer
zum leidenschaftlichen Miterleben, während die begleitende Gebärdensprache nur in der zartesten Modulation
sich zu äußern brauchte. Nun ist überhaupt die gesungene Leidenschaft in der Zeitdauer um etwas länger,
als die gesprochene; die Musik streckt gleichsam die
Empfindung aus: daraus folgt im allgemeinen, dass
der darstellende Künstler, welcher zugleich Sänger ist,
die allzu große unplastische Aufgeregtheit der Bewegung, an welcher das aufgeführte Wortdrama leidet,
überwinden muss. Er sieht sich zu einer Veredelung
der Gebärde hingezogen, um so mehr, als die Musik
seine Empfindung in das Bad eines reineren Äthers
eingetaucht und dadurch unwillkürlich der Schönheit
näher gebracht hat.
Die außerordentlichen Aufgaben, welche Wagner
den Schauspielern und Sängern gestellt hat, werden
auf ganze Menschenalter hin einen Wetteifer unter
ihnen entzünden, um endlich das Bild jedes Wagnerschen Helden in der leiblichsten Sichtbarkeit und Vollendung zur Darstellung zu bringen: so wie diese vollendete Leiblichkeit in der Musik des Dramas schon
vorgebildet liegt. Diesem Führer folgend, wird zuletzt
das Auge des plastischen Künstlers die Wunder einer
neuen Schauwelt sehen, welche vor ihm allein der
Schöpfer solcher Werke, wie der Ring des Nibelungen
ist, zum ersten Mal erblickt hat: als ein Bildner
höchster Art, welcher wie Äschylus einer kommenden
Kunst den Weg zeigt. Müssen nicht schon durch die
Eifersucht große Begabungen geweckt werden, wenn
die Kunst des Plastikers ihre Wirkung mit der einer
Musik vergleicht, wie die Wagnersche ist: in welcher
es reinstes, sonnenhellstes Glück gibt; so dass dem,
welcher sie hört, zumute wird, als ob fast alle frühere
Musik eine veräußerlichte, befangene, unfreie Sprache
geredet hätte, als ob man mit ihr bisher hätte ein Spiel
spielen wollen, vor solchen, welche des Ernstes nicht
würdig waren, oder als ob mit ihr gelehrt und demonstriert werden sollte, vor solchen, welche nicht einmal
des Spieles würdig sind. Durch diese frühere Musik
dringt nur auf kurze Stunden jenes Glück in uns ein,
welches wir immer bei Wagnerscher Musik empfinden:
es scheinen seltene Augenblicke der Vergessenheit,
welche sie gleichsam überfallen, wo sie mit sich allein
redet und den Blick aufwärts richtet, wie Rafaels Cäcilia, weg von den Hörern, welche Zerstreuung, Lustbarkeit oder Gelehrsamkeit von ihr fordern.
Von Wagner, dem Musiker, wäre im allgemeinen
zu sagen, dass er allem in der Natur, was bis jetzt
nicht reden wollte, eine Sprache gegeben hat: er glaubt
nicht daran, dass es etwas Stummes geben müsse. Er
taucht auch in Morgenröte, Wald, Nebel, Kluft, Bergeshöhe, Nachtschauer, Mondesglanz hinein und merkt
ihnen ein heimliches Begehren ab: sie wollen auch
tönen. Wenn der Philosoph sagt, es ist ein Wille,
der in der belebten und unbelebten Natur nach Dasein
dürstet, so fügt der Musiker hinzu: und dieser Wille
will, auf allen Stufen, ein tönendes Dasein.
Die Musik hatte vor Wagner im ganzen enge
Grenzen; sie bezog sich auf bleibende Zustände des
Menschen, auf das, was die Griechen Ethos nennen,
und hatte mit Beethoven eben erst begonnen, die Sprache
des Pathos, des leidenschaftlichen Wollens, der dramatischen Vorgänge im Innern des Menschen, zu finden.
Ehedem sollte eine Stimmung, ein gefasster oder heiterer oder andächtiger oder bußfertiger Zustand sich
durch Töne zu erkennen geben, man wollte durch eine
gewisse auffallende Gleichartigkeit der Form und durch
die längere Andauer dieser Gleichartigkeit den Zuhörer
zur Deutung dieser Musik nötigen und endlich in die
gleiche Stimmung versetzen. Allen solchen Bildern
von Stimmungen und Zuständen waren einzelne Formen
notwendig; andere wurden durch Konvention in ihnen
üblich. Über die Länge entschied die Vorsicht des
Musikers, welcher den Zuhörer wohl in eine Stimmung
bringen, aber nicht durch allzu lange Andauer derselben
langweilen wollte. Man ging einen Schritt weiter, als
man die Bilder entgegengesetzter Stimmungen nacheinander entwarf und den Reiz des Kontrastes entdeckte,
und noch einen Schritt, als dasselbe Tonstück in sich
einen Gegensatz des Ethos, zum Beispiel durch das
Widerstreben eines männlichen und eines weiblichen
Themas, aufnahm. Dies alles sind noch rohe und uranfängliche Stufen der Musik. Die Furcht vor der
Leidenschaft gibt die einen, die vor der Langeweile
die anderen Gesetze; alle Vertiefungen und Ausschreitungen des Gefühls wurden als ,,unethisch" empfunden.
Nachdem aber die Kunst des Ethos dieselben gewöhnlichen Zustände und Stimmungen in hundertfacher
Wiederholung dargestellt hatte, geriet sie, trotz der
wunderbarsten Erfindsamkeit ihrer Meister, endlich in
Erschöpfung. Beethoven zuerst ließ die Musik eine
neue Sprache, die bisher verbotene Sprache der Leidenschaft, reden: weil aber seine Kunst aus den Gesetzen
und Konventionen der Kunst des Ethos herauswachsen
und versuchen musste, sich gleichsam vor jener zu rechtfertigen, so hatte sein künstlerisches Werden eine eigentümliche Schwierigkeit und Undeutlichkeit an sich. Ein
innerer, dramatischer Vorgang --- denn jede Leidenschaft
hat einen dramatischen Verlauf --- wollte sich zu einer
neuen Form hindurchringen, aber das überlieferte Schema
der Stimmungsmusik widersetzte sich und redete beinah
mit der Miene der Moralität wider ein Aufkommen der
Unmoralität. Es scheint mitunter so, als ob Beethoven
sich die widerspruchsvolle Aufgabe gestellt habe, das
Pathos mit den Mitteln des Ethos sich aussprechen zu
lassen. Für die größten und spätesten Werke Beethovens reicht aber die Vorstellung nicht aus. Um den
großen geschwungenen Bogen einer Leidenschaft wiederzugeben, fand er wirklich ein neues Mittel: er nahm
einzelne Punkte ihrer Flugbahn heraus und deutete sie
mit der größten Bestimmtheit an, um aus ihnen dann
die ganze Linie durch den Zuhörer erraten zu lassen.
Äußerlich betrachtet, nahm sich die neue Form aus,
wie die Zusammenstellung mehrerer Tonstücke, von
denen jedes einzelne scheinbar einen beharrenden Zustand, in Wahrheit aber einen Augenblick im dramatischen Verlauf der Leidenschaft darstellte. Der Zuhörer
konnte meinen, die alte Musik der Stimmung zu hören,
nur dass das Verhältniss der einzelnen Teile zueinander ihm unfasslich geworden war und sich nicht
mehr nach dem Kanon des Gegensatzes deuten ließ.
Selbst bei Musikern stellte sich eine Geringschätzung
gegen die Forderung eines künstlerischen Gesamtbaues ein; die Folge der Teile in ihren Werken wurde
willkürlich. Die Erfindung der großen Form der Leidenschaft führte durch ein Missverständnis auf den
Einzelsatz mit beliebigem Inhalte zurück, und die
Spannung der Teile gegeneinander hörte ganz auf.
Deshalb ist die Symphonie nach Beethoven ein so
wunderlich undeutliches Gebilde, namentlich wenn sie
im einzelnen noch die Sprache des Beethovenschen
Pathos stammelt. Die Mittel passen nicht zur Absicht
und die Absicht im ganzen wird dem Zuhörer überhaupt nicht klar, weil sie auch im Kopfe des Urhebers
niemals klar gewesen ist. Gerade aber die Forderung,
dass man etwas ganz Bestimmtes zu sagen habe und
dass man es auf das Deutlichste sage, wird um so unerlässlicher, je höher, schwieriger und anspruchsvoller
eine Gattung ist.
Deshalb war Wagners ganzes Ringen darauf aus,
alle Mittel zu finden, welche der Deutlichkeit dienen; vor allem hatte er dazu nötig, sich von allen
Befangenheiten und Ansprüchen der älteren Musik der
Zustände loszubinden und seiner Musik, dem tönenden
Prozesse des Gefühls und der Leidenschaft, eine gänzlich unzweideutige Rede in den Mund zu legen. Schauen
wir auf das hin, was er erreicht hat, so ist uns, als ob
er im Bereiche der Musik das Gleiche getan habe,
was im Bereiche der Plastik der Erfinder der Freigruppe
tat. Alle frühere Musik scheint, an der Wagnerschen
gemessen, steif oder ängstlich, als ob man sie nicht
von allen Seiten ansehen dürfe und sie sich schäme.
Wagner ergreift jeden Grad und jede Farbe des Gefühls mit der größten Festigkeit und Bestimmtheit; er
nimmt die zarteste, entlegenste und wildeste Regung,
ohne Angst sie zu verlieren, in die Hand, und hält sie
wie etwas Hart-- und Festgewordenes, wenn auch jedermann sonst in ihr einen unangreifbaren Schmetterling
sehen sollte. Seine Musik ist niemals unbestimmt,
stimmungshaft; alles, was durch sie redet, Mensch oder
Natur, hat eine streng individualisierte Leidenschaft;
Sturm und Feuer nehmen bei ihm die zwingende Gewalt eines persönlichen Willens an. Über allen den
tönenden Individuen und dem Kampfe ihrer Leidenschaften, über dem ganzen Strudel von Gegensätzen,
schwebt, mit höchster Besonnenheit, ein übermächtiger
symphonischer Verstand, welcher aus dem Kriege fortwährend die Eintracht gebiert: Wagners Musik als
Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von dem
großen ephesischen Philosophen verstanden wurde, als
eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt, als
die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft. Ich
bewundere die Möglichkeit, aus einer Mehrzahl von
Leidenschaften, welche nach verschiedenen Richtungen
hin laufen, die große Linie einer Gesamtleidenschaft
zu berechnen: dass so etwas möglich ist, sehe ich durch
jeden einzelnen Akt eines Wagnerschen Dramas bewiesen, welcher nebeneinander die Einzelgeschichte
verschiedener Individuen und eine Gesamtgeschichte
aller erzählt. Wir spüren es schon zu Anfang, dass
wir widerstrebende einzelne Strömungen, aber auch
über alle mächtig, einen Strom mit einer gewaltigen
Richtung vor uns haben: dieser Strom bewegt sich
zuerst unruhig, über verborgene Felsenzacken hinweg,
die Flut scheint mitunter auseinander zu reißen, nach
verschiedenen Richtungen hin zu wollen. Allmählich
bemerken wir, dass die innere Gesamtbewegung gewaltiger, fortreißender geworden ist; die zuckende
Unruhe ist in die Ruhe der breiten furchtbaren Bewegung
nach einem noch unbekannten Ziele übergegangen; und
plötzlich, am Schluss, stürzt der Strom hinunter in die
Tiefe, in seiner ganzen Breite, mit einer dämonischen
Lust an Abgrund und Brandung. Nie ist Wagner mehr
Wagner, als wenn die Schwierigkeiten sich verzehnfachen und er in ganz großen Verhältnissen mit der
Lust des Gesetzgebers walten kann. Ungestüme, widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen bändigen,
durch eine verwirrende Mannigfaltigkeit von Ansprüchen und Begehrungen, einen Willen durchführen ---
das sind die Aufgaben, zu welchen er sich geboren,
in welchen er seine Freiheit fühlt. Nie verliert er dabei den Atem, nie kommt er keuchend an sein Ziel.
Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die
schwersten Gesetze aufzuerlegen, als andere nach Erleichterung ihrer Last trachten; das Leben und die
Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man erwäge nur einmal
das Verhältnis der gesungenen Melodie zur Melodie
der ungesungenen Rede --- wie er die Höhe, die Stärke
und das Zeitmaß des leidenschaftlich sprechenden
Menschen als Naturvorbild behandelt, das er in Kunst
umzuwandeln hat: --- man erwäge dann wiederum die
Einordnung einer solchen singenden Leidenschaft in den
ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein
Wunderding von überwundenen Schwierigkeiten kennen
zu lernen; seine Erfindsamkeit hierbei, im kleinen und
großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines
Fleißes ist der Art, dass man beim Anblick einer
Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor
ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben.
Es scheint, dass er auch in Bezug auf die Mühsal der
Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des
Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung, aber
er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine
Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend
und das Gute sind leicht.
Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner,
um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas
von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um
die Sache und die Gewalt des Griffs, so dass er jedesmal die Sache fasst; er schlägt seine Hand darum, im
Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre.
Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; und
doch ist er, gleich Demosthenes, die letzte und höchste
Erscheinung hinter einer ganzen Reihe von gewaltigen
Kunstgeistern, und hat folglich mehr zu verbergen,
als die ersten der Reihe; seine Kunst wirkt als Natur,
als hergestellte, wiedergefundene Natur. Er trägt nichts
Epideiktisches an sich, was alle früheren Musiker haben,
welche gelegentlich mit ihrer Kunst auch ein Spiel
treiben und ihre Meisterschaft zur Schau stellen. Man
denkt bei dem Wagnerschen Kunstwerke weder an
das Interessante, noch das Ergötzliche, noch an Wagner
selbst, noch an die Kunst überhaupt: man fühlt allein
das Notwendige. Welche Strenge und Gleichmäßigkeit des Willens, welche Selbstüberwindung der
Künstler in der Zeit seines Werdens nötig hatte, um
zuletzt, in der Reife, mit freudiger Freiheit in jedem
Augenblick des Schaffens das Notwendige zu tun,
das wird ihm niemals jemand nachrechnen können:
genug, wenn wir es an einzelnen Fällen spüren, wie
seine Musik sich mit einer gewissen Grausamkeit des
Entschlusses dem Gange des Dramas, der wie das
Schicksal unerbittlich ist, unterwirft, während die feurige Seele dieser Kunst darnach lechzt, einmal ohne alle
Zügel in der Freiheit und Wildnis umherzuschweifen.
10
Ein Künstler, welcher diese Gewalt über sich hat,
unterwirft sich, selbst ohne es zu wollen, alle anderen
Künstler. Ihm allein wiederum werden die Unterworfenen, seine Freunde und Anhänger nicht zur Gefahr,
zur Schranke: während die geringeren Charaktere, weil
sie sich auf die Freunde zu stützen suchen, durch sie
ihre Freiheit einzubüßen pflegen. Es ist höchst wunderbar anzusehen, wie Wagner sein Leben lang jeder
Gestaltung von Parteien ausgewichen ist, wie sich
aber hinter jeder Phase seiner Kunst ein Kreis von
Anhängern zusammenschloss, scheinbar, um ihn nun
auf dieser Phase festzuhalten. Er ging immer mitten
durch sie hindurch und ließ sich nicht binden; sein
Weg ist überdies zu lang gewesen, als dass ein einzelner so leicht ihn von Anfang an hätte mitgehen
können: und so ungewöhnlich und steil, dass auch dem
Treuesten wohl einmal der Atem ausging. Fast
zu allen Lebenszeiten Wagners hätten ihn seine Freunde
gern dogmatisieren mögen; und ebenfalls, obwohl aus
anderen Gründen, seine Feinde. Wäre die Reinheit
seines künstlerischen Charakters nur um einen Grad
weniger entschieden gewesen, so hätte er viel zeitiger
zum entscheidenden Herrn, der gegenwärtigen Kunst-- und Musikzustände werden können: --- was er jetzt
endlich auch geworden ist, aber in dem viel höheren
Sinne, dass alles, was auf irgendeinem Gebiete der
Kunst vorgeht, sich unwillkürlich vor den Richterstuhl
seiner Kunst und seines künstlerischen Charakters gestellt sieht. Er hat sich die Widerwilligsten unterjocht:
es gibt keinen begabten Musiker mehr, welcher nicht
innerlich auf ihn hörte und ihn hörenswerter, als sich
und die übrige Musik zusammen, fände. Manche, welche
durchaus etwas bedeuten wollen, ringen geradezu mit
diesem sie überwältigenden inneren Reize, bannen sich
mit ängstlicher Beflissenheit in den Kreis der älteren
Meister und wollen lieber ihre ,,Selbstständigkeit" an
Schubert oder Händel anlehnen, als an Wagner. Umsonst! Indem sie gegen ihr besseres Gewissen kämpfen,
werden sie als Künstler selber geringer und kleinlicher;
sie verderben ihren Charakter dadurch, dass sie schlechte
Bundesgenossen und Freunde dulden müssen: und nach
allen diesen Aufopferungen begegnet es ihnen doch,
vielleicht in einem Traume, dass ihr Ohr nach Wagner
hinhorcht. Diese Gegner sind bedauernswürdig: sie
glauben viel zu verlieren, wenn sie sich verlieren und
irren sich dabei.
Nun liegt ersichtlich Wagner nicht viel daran, ob
die Musiker von jetzt ab wagnerisch komponieren und
ob sie überhaupt komponieren; ja er tut, was er kann,
um jenen unseligen Glauben zu zerstören, dass sich
nun wieder an ihn eine Schule von Komponisten anschließen müsse. So weit er unmittelbaren Einfluss
auf Musiker hat, sucht er sie über die Kunst des großen
Vortrags zu belehren; es scheint ihm ein Zeitpunkt
in der Entwicklung der Kunst gekommen, in welchem
der gute Wille, ein tüchtiger Meister der Darstellung
und Ausübung zu werden, viel schätzenswerter ist,
als das Gelüst, um jeden Preis selber zu ,,schaffen."
Denn dieses Schaffen, auf der jetzt erreichten Stufe der
Kunst, hat die verhängnisvolle Folge, das wahrhaft
große in seinen Wirkungen zu verflachen, dadurch,
dass man es, so gut es geht, vervielfältigt und die
Mittel und Kunstgriffe des Genies durch alltäglichen
Gebrauch abnützt. Selbst das Gute in der Kunst ist
überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung
des Besten entstand. Die Wagnerschen Zwecke und
Mittel gehören zusammen: es braucht nichts weiter
dazu, als künstlerische Ehrlichkeit, dies zu fühlen, und
es ist Unehrlichkeit, die Mittel ihm abzumerken und
zu ganz anderen, kleineren Zwecken zu verwenden.
Wenn also Wagner es ablehnt, in einer Schar von
wagnerisch komponierenden Musikern fortzuleben, so
stellt er um so eindringlicher allen Begabungen die
neue Aufgabe, mit ihm zusammen die Gesetze des Stils
für den dramatischen Vortrag zu finden. Das tiefste
Bedürfnis treibt ihn, für seine Kunst die Tradition
eines Stils zu begründen, durch welche sein Werk,
in reiner Gestalt, von einer Zeit zur anderen fortleben
könne, bis es jene Zukunft erreicht, für welche es von
seinem Schöpfer vorausbestimmt war.
Wagner besitzt einen unersättlichen Trieb, alles,
was sich auf jene Begründung des Stils und, solchermaßen, auf die Fortdauer seiner Kunst bezieht, mitzuteilen. Sein Werk, um mit Schopenhauer zu reden,
als ein heiliges Depositum und die wahre Frucht seines
Daseins, zum Eigentum der Menschheit zu machen,
es niederlegend für eine besser urteilende Nachwelt,
dies wurde ihm zum Zweck, der allen anderen
Zwecken vorgeht, und für den er die Dornenkrone
trägt, welche einst zum Lorbeerkranze ausschlagen soll:
auf die Sicherstellung seines Werkes konzentrierte sein
Streben sich eben so entschieden, wie das des Insekts,
in seiner letzten Gestalt, auf die Sicherstellung seiner
Eier und Vorsorge für die Brut, deren Dasein es nie
erlebt: es deponiert die Eier da, wo sie, wie es sicher
weiß, einst Leben und Nahrung finden werden, und
stirbt getrost.
Dieser Zweck, der allen anderen Zwecken vorgeht,
treibt ihn zu immer neuen Erfindungen; er schöpft deren
aus dem Borne seiner dämonischen Mitteilbarkeit immer
mehr, je deutlicher er sich im Ringen mit dem abgeneigtesten Zeitalter fühlt, das zum Hören den schlechtesten Willen mitgebracht hat. Allmählich aber beginnt
selbst dieses Zeitalter seinen unermüdlichen Versuchen,
seinem biegsamen Andringen nachzugeben und das
Ohr hinzuhalten. Wo eine kleine oder bedeutende
Gelegenheit sich von Ferne zeigte, seine Gedanken durch
ein Beispiel zu erklären, war Wagner dazu bereit: er
dachte seine Gedanken in die jedesmaligen Umstände
hinein und brachte sie aus der dürftigsten Verkörperung
heraus noch zum Reden. Wo eine halbwegs empfängliche Seele sich ihm auftat, warf er seinen Samen
hinein. Er knüpft dort Hoffnungen an, wo der kalte
Beobachter mit den Achseln zuckt; er täuscht sich
hundertfach, um einmal gegen diesen Beobachter Recht
zu behalten. Wie der Weise im Grunde mit lebenden
Menschen nur so weit verkehrt, als er durch sie den
Schatz seiner Erkenntniss zu mehren weiß, so
scheint es fast, als ob der Künstler keinen Verkehr
mehr mit den Menschen seiner Zeit haben könne, durch
welchen er nicht die Verewigung seiner Kunst fördert:
man liebt ihn nicht anders, als wenn man diese Verewigung liebt und ebenso empfindet er nur eine Art
des gegen ihn gerichteten Hasses, den Hass nämlich,
welcher die Brücken zu jener Zukunft seiner Kunst
ihm abbrechen will. Die Schüler, welche Wagner sich
erzog, die einzelnen Musiker und Schauspieler, denen
er ein Wort sagte, eine Gebärde vormachte, die kleinen
und großen Orchester, die er führte, die Städte, welche
ihn im Ernste seiner Tätigkeit sahen, die Fürsten und
Frauen, welche halb mit Scheu, halb mit Liebe an
seinen Plänen Teil nahmen, die verschiedenen europäischen Länder, denen er zeitweilig als der Richter
und das böse Gewissen ihrer Künste angehörte: alles
wurde allmählich zum Echo seines Gedankens, seines
unersättlichen Strebens nach einer zukünftigen Fruchtbarkeit; kam dieses Echo auch oft entstellt und verwirrt zu ihm zurück, so muss doch zuletzt der Übermacht des gewaltigen Tones, welchen er hundertfältig
in die Welt hineinrief, auch ein übermächtiger Nachklang entsprechen; und es wird bald nicht mehr möglich sein, ihn nicht zu hören, ihn falsch zu verstehen.
Dieser Nachklang ist es schon jetzt, welcher die Kunststätten der modernen Menschen erzittern macht; jedesmal, wenn der Hauch seines Geistes in diese Gärten
hineinblies, bewegte sich alles, was darin windfällig
und wipfeldürr war; und in noch beredterer Weise, als
dieses Erzittern, spricht ein überall auftauchender Zweifel: niemand weiß mehr zu sagen, wo nur immer noch
die Wirkung Wagners unvermutet herausbrechen
werde. Er ist ganz und gar außerstande, das Heil
der Kunst losgetrennt von irgendwelchem anderen
Heil und Unheil zu betrachten: wo nur immer der
moderne Geist Gefahren in sich birgt, da spürt er mit
dem Auge des spähendsten Misstrauens auch die Gefahr der Kunst. Er nimmt in seiner Vorstellung das
Gebäude unserer Zivilisation auseinander und lässt
sich nichts Morsches, nichts leichtfertig Gezimmertes
entgehen: wenn er dabei auf wetterfeste Mauern und
überhaupt auf dauerhaftere Fundamente stößt, so sinnt
er sofort auf ein Mittel, daraus für seine Kunst Bollwerke und schützende Dächer zu gewinnen. Er lebt
wie ein Flüchtling, der nicht sich, sondern ein Geheimnis zu bewahren trachtet; wie ein unglückliches Weib,
welches das Leben des Kindes, das sie im Schoße
trägt, nicht ihr eigenes retten will: er lebt wie Sieglinde
,,um der Liebe willen."
Denn freilich ist es ein Leben voll mannigfacher
Qual und Scham, in einer Welt unstet und unheimisch
zu sein und doch zu ihr reden, von ihr fordern zu
müssen, sie verachten und doch die Verachtete nicht
entbehren zu können, --- es ist die eigentliche Not des
Künstlers der Zukunft; als welcher nicht, gleich dem
Philosophen, in einem dunklen Winkel für sich der
Erkenntnis nachjagen kann: denn er braucht menschliche Seelen als Vermittler an die Zukunft, öffentliche
Einrichtungen als Gewährleistung dieser Zukunft, als
Brücken zwischen jetzt und einstmals. Seine Kunst ist
auf dem Kahne der schriftlichen Aufzeichnung nicht
einzuschiffen, wie dies der Philosoph vermag: die
Kunst will Könnende als Überlieferer, nicht Buchstaben und Noten. Über ganze Strecken im Leben
Wagners hinweg klingt der Ton der Angst, diesen
Könnenden nicht mehr nahe zu kommen und an Stelle
des Beispiels, das er ihnen zu geben hat, gewaltsam
auf die schriftliche Andeutung sich eingeschränkt zu
sehen, und anstatt die Tat vorzutun, den blässesten
Schimmer der Tat solchen zu zeigen, welche Bücher
lesen, das heißt im ganzen so viel als: welche keine
Künstler sind.
Wagner als Schriftsteller zeigt den Zwang
eines tapferen Menschen, dem man die rechte Hand
zerschlagen hat und der mit der linken ficht: er ist
immer ein Leidender, wenn er schreibt, weil er der
rechten Mitteilung auf seine Weise, in Gestalt eines
leuchtenden und siegreichen Beispiels, durch eine zeitweilig unüberwindliche Notwendigkeit beraubt ist.
Seine Schriften haben gar nichts Kanonisches, Strenges:
sondern der Kanon liegt in den Werken. Es sind
Versuche, den Instinkt zu begreifen, welcher ihn zu
seinen Werken trieb und gleichsam sich selber ins
Auge zu sehen; hat er es erst erreicht, seinen Instinkt
in Erkenntnis umzuwandeln, so hofft er, dass in den
Seelen seiner Leser der umgekehrte Prozess sich einstellen werde: mit dieser Aussicht schreibt er. Wenn
sich vielleicht ergeben sollte, dass hierbei irgend etwas
Unmögliches versucht worden ist, so hätte Wagner
doch nur dasselbe Schicksal mit allen denen gemein,
welche über die Kunst nachdachten; und vor den
meisten von ihnen hat er voraus, dass in ihm der gewaltigste Gesamtinstinkt der Kunst Herberge genommen
hat. Ich kenne keine ästhetischen Schriften, welche so
viel Licht brächten, wie die Wagnerschen; was über
die Geburt des Kunstwerkes überhaupt zu erfahren ist,
das ist aus ihnen zu erfahren. Es ist einer der ganz
großen, der hier als Zeuge auftritt und sein Zeugnis
durch eine lange Reihe von Jahren immer mehr verbessert, befreit, verdeutlicht und aus dem Unbestimmten
heraushebt; auch wenn er, als Erkennender, stolpert,
schlägt er Feuer heraus. Gewisse Schriften, wie ,,Beethoven", ,,über das Dirigieren", ,,über Schauspieler und
Sänger", ,,Staat und Religion", machen jedes Gelüst
zum Widersprechen verstummen und erzwingen sich
ein stilles innerliches, andächtiges Zuschauen, wie es
sich beim Auftun kostbarer Schreine geziemt. Andere,
namentlich die aus der früheren Zeit, ,,Oper und Drama"
mit eingerechnet, regen auf, machen Unruhe: es ist eine
Ungleichmäßigkeit des Rhythmus in ihnen, wodurch
sie, als Prosa, in Verwirrung setzen. Die Dialektik in
ihnen ist vielfältig gebrochen, der Gang durch Sprünge
des Gefühls mehr gehemmt, als beschleunigt; eine Art
von Widerwilligkeit des Schreibenden liegt wie ein
Schatten auf ihnen, gleich als ob der Künstler des
begrifflichen Demonstrierens sich schämte. Am meisten
beschwert vielleicht den nicht ganz Vertrauten ein
Ausdruck von autoritativer Würde, welcher ganz ihm
eigen und schwer zu beschreiben ist: mir kommt es
so vor, als ob Wagner häufig wie vor Feinden
spreche --- denn alle diese Schriften sind im Sprechstil, nicht im Schreibstil geschrieben, und man wird
sie viel deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen
hört --- vor Feinden, mit denen er keine Vertraulichkeit
haben mag, weshalb er sich abhaltend, zurückhaltend
zeigt. Nun bricht nicht selten die fortreißende Leidenschaft seines Gefühls durch diesen absichtlichen Faltenwurf hindurch; dann verschwindet die künstliche, schwere
und mit Nebenworten reich geschwellte Periode, und
es entschlüpfen ihm Sätze und ganze Seiten, welche
zu dem Schönsten gehören, was die deutsche Prosa
hat. Aber selbst angenommen, dass er in solchen
Teilen seiner Schriften zu Freunden redet und das
Gespenst seines Gegners dabei nicht mehr neben seinem
Stuhle steht: alle die Freunde und Feinde, mit welchen
Wagner als Schriftsteller sich einlässt, haben etwas
Gemeinsames, was sie gründlich von jenem Volke abtrennt, für welches er als Künstler schafft. Sie sind
in der Verfeinerung und Unfruchtbarkeit ihrer Bildung
durchaus unvolkstümlich und der, welcher von
ihnen verstanden werden will, muss unvolkstümlich
reden: so wie dies unsere besten Prosa-Schriftsteller
getan haben, so wie es auch Wagner tut. Mit welchem Zwange, das lässt sich erraten. Aber die Gewalt jenes vorsorglichen, gleichsam mütterlichen Triebes,
welchem er jedes Opfer bringt, zieht ihn selber in den
Dunstkreis der Gelehrten und Gebildeten zurück, dem
er als Schaffender auf immer Lebewohl gesagt hat.
Er unterwirft sich der Sprache der Bildung und allen
Gesetzen ihrer Mitteilung, ob er schon der erste gewesen ist, welcher das tiefe Ungenügen dieser Mitteilung empfunden hat.
Denn, wenn irgend etwas seine Kunst gegen alle
Kunst der neueren Zeiten abhebt, so ist es dies: sie
redet nicht mehr die Sprache der Bildung einer Kaste,
und kennt überhaupt den Gegensatz von Gebildeten
und Ungebildeten nicht mehr. Damit stellt sie sich in
Gegensatz zu aller Kultur der Renaissance, welche bisher uns neuere Menschen in ihr Licht und ihren Schatten eingehüllt hatte. Indem die Kunst Wagners uns
auf Augenblicke aus ihr hinausträgt, vermögen wir
ihren gleichartigen Charakter überhaupt erst zu überschauen: da erscheinen uns Goethe und Leopardi als,
die letzten großen Nachzügler der italienischen Philologen-Poeten, der Faust als die Darstellung des unvolkstümlichsten Rätsels, welches sich die neueren Zeiten,
in der Gestalt des nach Leben dürstenden theoretischen
Menschen, aufgegeben haben; selbst das Goethische Lied
ist dem Volksliede nachgesungen, nicht vorgesungen,
und sein Dichter wusste, weshalb er mit so vielem
Ernste einem Anhänger den Gedanken ans Herz legte:
,,meine Sachen können nicht populär werden; wer daran
denkt und dafür strebt, ist im Irrtum."
Dass es überhaupt eine Kunst geben könne, so
sonnenhaft hell und warm, um ebenso die Niedrigen
und Armen am Geiste mit ihrem Strahle zu erleuchten,
als den Hochmut der Wissenden zu schmelzen: Das
musste erfahren werden und war nicht zu erraten.
Aber im Geiste eines jeden, der es jetzt erfährt, muss
es alle Begriffe über Erziehung und Kultur umwenden;
ihm wird der Vorhang vor einer Zukunft aufgezogen
scheinen, in welcher es keine höchsten Güter und Beglückungen mehr gibt, die nicht den Herzen aller
gemein sind. Der Schimpf, welcher bisher dem Worte
,,gemein" anklebte, wird dann von ihm hinweggenommen sein.
Wenn sich solchermaßen die Ahnung in die Ferne
wagt, wird die bewusste Einsicht die unheimliche soziale
Unsicherheit unserer Gegenwart ins Auge fassen und
sich die Gefährdung einer Kunst nicht verbergen, welche
gar keine Wurzeln zu haben scheint, wenn nicht in jener
Ferne und Zukunft und die ihre blühenden Zweige uns
eher zu Gesicht kommen lässt, als das Fundament, aus
dem sie hervorwächst. Wie retten wir diese heimatlose Kunst hindurch bis zu jener Zukunft, wie dämmen
wir die Flut der überall unvermeidlich scheinenden
Revolution so ein, dass mit dem Vielen, was dem
Untergange geweiht ist und ihn verdient, nicht auch die
beseligende Antizipation und Bürgschaft einer besseren
Zukunft, einer freieren Menschheit weggeschwemmt wird?
Wer so sich fragt und sorgt, hat an Wagners
Sorge Anteil genommen; er wird mit ihm sich getrieben fühlen, nach jenen bestehenden Mächten zu suchen,
welche den guten Willen haben, in den Zeiten der
Erdbeben und Umstürze die Schutzgeister der edelsten
Besitztümer der Menschheit zu sein. Einzig in diesem
Sinne fragt Wagner durch seine Schriften bei den
Gebildeten an, ob sie sein Vermächtnis, den kostbaren
Ring seiner Kunst mit in ihren Schatzhäusern bergen
wollen; und selbst das großartige Vertrauen, welches
Wagner dem deutschen Geiste auch in seinen politischen Zielen geschenkt hat, scheint mir darin seinen
Ursprung zu haben, dass er dem Volke der Reformation
jene Kraft, Milde und Tapferkeit zutraut, welche nötig
ist, um ,,das Meer der Revolution in das Bette des ruhig
fließenden Stromes der Menschheit einzudämmen": und
fast möchte ich meinen, dass er dies und nichts anderes
durch die Symbolik seines Kaisermarsches ausdrücken
wollte.
Im allgemeinen ist aber der hilfreiche Drang des
schaffenden Künstlers zu groß, der Horizont seiner
Menschenliebe zu umfänglich, als dass sein Blick an
den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind wie die jedes guten
und großen Deutschen überdeutsch und die Sprache
seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen.
Aber zu Menschen der Zukunft.
Das ist der ihm eigentümliche Glaube, seine Qual
und seine Auszeichnung. Kein Künstler irgendwelcher
Vergangenheit hat eine so merkwürdige Mitgift von
seinem Genius erhalten, niemand hat außer ihm diesen
Tropfen herbster Bitterkeit mit jedem nektarischen
Tranke, welchen die Begeisterung ihm reichte, trinken
müssen. Es ist nicht, wie man glauben möchte, der
verkannte, der gemisshandelte, der in seiner Zeit gleichsam flüchtige Künstler, welcher sich diesen Glauben,
zur Notwehr, gewann: Erfolg und Misserfolg bei den
Zeitgenossen konnten ihn nicht aufheben und nicht
begründen. Er gehört nicht zu diesem Geschlecht, mag
es ihn preisen oder verwerfen: --- das ist das Urteil
seines Instinktes; und ob je ein Geschlecht zu ihm gehören werde, das kann dem, welcher daran nicht glauben mag, auch nicht bewiesen werden. Aber wohl
kann auch dieser Ungläubige die Frage stellen, welcher
Art ein Geschlecht sein müsse, in dem Wagner sein
,,Volk" wiedererkennen würde, als den Inbegriff aller
derjenigen, welche eine gemeinsame Not empfinden
und sich von ihr durch eine gemeinsame Kunst erlösen
wollen. Schiller freilich ist gläubiger und hoffnungsvoller gewesen: er hat nicht gefragt, wie wohl eine
Zukunft aussehen werde, wenn der Instinkt des Künstlers, der von ihr wahrsagt, Recht behalten sollte, vielmehr von den Künstlern gefordert:
Erhebet euch mit kühnem Flügel/
hoch über euren Zeitenlauf!/
Fern dämmre schon in eurem Spiegel/
das kommende Jahrhundert auf!
11
Die gute Vernunft bewahre uns vor dem Glauben,
dass die Menschheit irgendwann einmal endgültige
ideale Ordnungen finden werde und dass dann das
Glück mit immer gleichem Strahle, gleich der Sonne
der Tropenländer, auf die solchermaßen Geordneten
niederbrennen müsse: mit einem solchen Glauben hat
Wagner nichts zu tun, er ist kein Utopist. Wenn er
des Glaubens an die Zukunft nicht entraten kann, so
heißt dies gerade nur so viel, dass er an den jetzigen
Menschen Eigenschaften wahrnimmt, welche nicht zum
unveränderlichen Charakter und Knochenbau des menschlichen Wesens gehören, sondern wandelbar, ja vergänglich sind, und dass gerade dieser Eigenschaften
wegen die Kunst unter ihnen ohne Heimat und er
selber der vorausgesendete Bote einer anderen Zeit
sein müsse. Kein goldenes Zeitalter, kein unbewölkter
Himmel ist diesen kommenden Geschlechtern beschieden,
auf welche ihn sein Instinkt anweist und deren ungefähre Züge aus der Geheimschrift seiner Kunst so weit
zu erraten sind, als es möglich ist, von der Art der
Befriedigung auf die Art der Not zu schließen. Auch
die übermenschliche Güte und Gerechtigkeit wird nicht
wie ein unbeweglicher Regenbogen über das Gefilde
dieser Zukunft gespannt sein. Vielleicht wird jenes
Geschlecht im ganzen sogar böser erscheinen, als das
jetzige, --- denn es wird, im Schlimmen wie im Guten,
offener sein; ja es wäre möglich, dass seine Seele,
wenn sie einmal in vollem, freiem Klange sich ausspräche, unsere Seelen in ähnlicher Weise erschüttern
und erschrecken würde, wie wenn die Stimme irgendeines
bisher versteckten bösen Naturgeistes laut geworden
wäre. Oder wie klingen diese Sätze an unser Ohr:
dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoizismus
und die Heuchelei, dass Ehrlich-sein, selbst im Bösen,
besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut,
als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine
Schande der Natur ist, und an keinem himmlischen,
noch irdischen Troste Anteil hat; endlich, dass jeder,
der frei werden will, es durch sich selber werden muss,
und dass niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk
in den Schoß fällt. Wie schrill und unheimlich dies
auch klingen möge: es sind Töne aus jener zukünftigen
Welt, welche der Kunst wahrhaft bedürftig ist und
von ihr auch wahrhafte Befriedigungen erwarten kann;
es ist die Sprache der auch im Menschlichen wiederhergestellten Natur, es ist genau das, was ich früher
richtige Empfindung im Gegensatz zu der jetzt herrschenden unrichtigen Empfindung nannte.
Nun aber gibt es allein für die Natur, nicht für
die Unnatur und die unrichtige Empfindung, wahre
Befriedigungen und Erlösungen. Der Unnatur, wenn
sie einmal zum Bewusstsein über sich gekommen ist,
bleibt nur die Sehnsucht ins Nichts übrig, die Natur
dagegen begehrt nach Verwandelung durch Liebe: jene
will nicht sein, diese will anders sein. Wer dies
begriffen hat, führe sich jetzt in aller Stille der Seele
die schlichten Motive der Wagnerschen Kunst vorüber,
um sich zu fragen, ob mit ihnen die Natur oder die
Unnatur ihre Ziele, wie diese eben bezeichnet wurden,
verfolgt.
Der Unstete, Verzweifelte findet durch die erbarmende Liebe eines Weibes, das lieber sterben, als ihm
untreu sein will, die Erlösung von seiner Qual: das
Motiv des fliegenden Holländers. --- Die Liebende, allem
eigenen Glück entsagend, wird, in einer himmlischen
Wandelung von amor in caritas, zur Heiligen und
rettet die Seele des Geliebten: Motiv des Tannhäuser.
--- Das Herrlichste, Höchste kommt verlangend herab
zu den Menschen und will nicht nach dem Woher?
gefragt sein; es geht, als die unselige Frage gestellt
wird, mit schmerzlichem Zwang in sein höheres Leben
zurück: Motiv des Lohengrin. --- Die liebende Seele
des Weibes und ebenso das Volk nehmen willig den
neuen beglückenden Genius auf, obschon die Pfleger
des Überlieferten und Herkömmlichen ihn von sich
stoßen und verlästern: Motiv der Meistersinger. ---
Zwei Liebende, ohne Wissen über ihr Geliebtsein,
sich vielmehr tief verwundet und verachtet glaubend,
begehren von einander den Todestrank zu trinken,
scheinbar zur Sühne der Beleidigung, in Wahrheit aber
aus einem unbewussten Drange: sie wollen durch den
Tod von aller Trennung und Verstellung befreit sein.
Die geglaubte Nähe des Todes löst ihre Seele und führt
sie in ein kurzes schauervolles Glück, wie als ob sie
wirklich dem Tage, der Täuschung, ja dem Leben entronnen wären: Motiv in Tristan und Isolde.
Im Ringe des Nibelungen ist der tragische Held
ein Gott, dessen Sinn nach Macht dürstet, und der,
indem er alle Wege geht, sie zu gewinnen, sich durch
Verträge bindet, seine Freiheit verliert, und in den
Fluch, welcher auf der Macht liegt, verflochten wird.
Er erfährt seine Unfreiheit gerade darin, dass er kein
Mittel mehr hat, sich des goldenen Ringes, des Inbegriffs aller Erdenmacht und zugleich der höchsten Gefahren für ihn selbst, so lange er in dem Besitze seiner
Feinde ist, zu bemächtigen: die Furcht vor dem Ende
und der Dämmerung aller Götter überkommt ihn und
ebenso die Verzweifelung darüber, diesem Ende nur
entgegensehen, nicht entgegenwirken zu können. Er
bedarf des freien furchtlosen Menschen, welcher, ohne
seinen Rat und Beistand, ja im Kampfe wider die
göttliche Ordnung, von sich aus die dem Gotte versagte
Tat vollbringt: er sieht ihn nicht und gerade dann,
wenn eine neue Hoffnung noch erwacht, muss er dem
Zwange, der ihn bindet, gehorchen: durch seine Hand
muss das Liebste vernichtet, das reinste Mitleiden mit
seiner Not bestraft werden. Da ekelt ihn endlich vor
der Macht, welche das Böse und die Unfreiheit im
Schoße trägt, sein Wille bricht sich, er selber verlangt nach dem Ende, das ihm von Ferne her droht.
Und jetzt erst geschieht das früher Ersehnteste: der
freie furchtlose Mensch erscheint, er ist im Widerspruche
gegen alles Herkommen entstanden; seine Erzeuger
büßen es, dass ein Bund wider die Ordnung der Natur
und Sitte sie verknüpfte: sie gehen zugrunde, aber
Siegfried lebt. Im Anblick seines herrlichen Werdens
und Aufblühens weicht der Ekel aus der Seele Wotans,
er geht dem Geschicke des Helden mit dem Auge der
väterlichsten Liebe und Angst nach. Wie er das Schwert
sich schmiedet, den Drachen tötet, den Ring gewinnt,
dem listigsten Truge entgeht, Brünnhilde erweckt, wie
der Fluch, der auf dem Ringe ruht, auch ihn nicht
verschont, ihm nah und näher kommt, wie er, treu in
Untreue, das Liebste aus Liebe verwundend, von den
Schatten und Nebeln der Schuld umhüllt wird, aber
zuletzt lauter wie die Sonne heraustaucht und untergeht, den ganzen Himmel mit seinem Feuerglanze entzündend und die Welt vom Fluche reinigend, --- das
alles schaut der Gott, dem der waltende Speer im
Kampfe mit dem Freiesten zerbrochen ist und der seine
Macht an ihn verloren hat, voller Wonne am eigenen
Unterliegen, voller Mitfreude und Mitleiden mit seinem
Überwinder: sein Auge liegt mit dem Leuchten einer
schmerzlichen Seligkeit auf den letzten Vorgängen, er
ist frei geworden in Liebe, frei von sich selbst.
Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt
lebender Menschen! Ward dies für euch gedichtet?
Habt ihr den Mut, mit eurer Hand auf die Sterne
dieses ganzen Himmelsgewölbes von Schönheit und
Güte zu zeigen und zu sagen: es ist unser Leben,
das Wagner unter die Sterne versetzt hat?
Wo sind unter euch die Menschen, welche das
göttliche Bild Wotans sich nach ihrem Leben zu deuten vermögen und welche selber immer größer werden,
je mehr sie, wie er, zurücktreten? Wer von euch will
auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, dass die
Macht böse ist? Wo sind die, welche wie Brünnhilde
aus Liebe ihr Wissen dahingeben und zuletzt doch
ihrem Leben das allerhöchste Wissen entnehmen:
,,trauernder Liebe tiefstes Leid schloss die Augen mir
auf". Und die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger
Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die
Siegfriede unter euch?
Wer so fragt und vergebens fragt, der wird sich
nach der Zukunft umsehen müssen; und sollte sein
Blick in irgendwelcher Ferne gerade noch jenes ,,Volk"
entdecken, welches seine eigene Geschichte aus den
Zeichen der Wagnerschen Kunst herauslesen darf, so
versteht er zuletzt auch, was Wagner diesem Volke
sein wird: --- Etwas, das er uns allen nicht sein kann,
nämlich nicht der Seher einer Zukunft, wie er uns
vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und
Verklärer einer Vergangenheit.